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# taz.de -- Flüchtlinge in München: „Eine Herausforderung“
> Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter erklärt, wie aus Empathie
> Politik wird. Und warum das Oktoberfest trotz der Flüchtlinge stattfinden
> muss.
Bild: Dieter Reiter im Gespräch mit Flüchtlingen, die im November 2014 mit ei…
taz: Herr Reiter, Sie haben die Flüchtlingspolitik zu ihrer Herzenssache
erklärt, lange bevor die Kanzlerin und die Bild-Zeitung das taten.
Erforderte eine solche Haltung politische Courage?
Dieter Reiter: Es ist auf jeden Fall ein Eintreten für die eigene
Überzeugung notwendig, und zwar dauerhaft und ohne Meinungswechsel. Das
Thema ist ja in München seit knapp einem Jahr wirklich evident. Ich habe
mich dabei von Anfang an so positioniert, wie heute: Die Menschen, die zu
uns kommen, wollen wir humanitär unterstützen, wir wollen ihnen helfen. Es
ist keine Frage „ob“, sondern „wie“ wir helfen können. Courage, wenn S…
so bezeichnen wollen. Ich halte es eher für eine Eigenschaft, wie sie allen
gewählten Politikern zu eigen sein sollte. Das habe ich in München immer
getan.
Wie erklären Sie sich diesen konkreten Meinungswechsel bei der Kanzlerin?
Das ist schwer zu sagen. Ich vermute, es gibt so etwas wie die Kraft der
Bilder, und es gab natürlich Bilder, wie das, von dem ertrunkenen Jungen,
die sehr bewegend waren und die anscheinend bis hinauf zur Bundeskanzlerin
zum Nachdenken bewegten. Ich will ihr gar keine andere Motivation
unterstellen. Die Bilder haben hier meines Erachtens eine entscheidende
Rolle gespielt. Auch die vom Budapester Bahnhof, die ja wohl mit der
Auslöser für die Aussage der Kanzlerin waren: „Wir schaffen das.“
Was war bei Ihnen der Moment, in dem das Mitgefühl auf ihr politisches
Handeln genommen hat?
Das kann ich sogar ziemlich genau sagen: Das war der Moment, als ich vor
einem knappen Jahr in die ehemalige Bayernkaserne ging, eine damals
überfüllte Erstaufnahmeeinrichtung. Ich habe gesehen, wie die Menschen dort
untergebracht waren, habe mit ihnen gesprochen und festgestellt, so kann
man das nicht weiterlaufen lassen. Damals mussten viele der Flüchtlinge im
Freien schlafen. Das kann, das darf es in einer Stadt wie München, in
meiner Stadt, nicht geben. Ich habe damals, etwas über meine Kompetenzen
hinausgehend, entschieden, die Bayernkaserne zu schließen. Und das hat,
denke ich, schon für einen deutlichen Nachdenkprozess auf vielen
politischen Ebenen Bayerns geführt, der bewirkte, dass wir in der aktuellen
Situation deutlich mehr Aufnahmeeinrichtungen haben. Hätte es damals nicht
diesen doch deutlichen Aufschlag gegeben, bin ich nicht sicher, wie die
Situation in Bayern heute aussähe.
Also muss man vor Ort sein?
Es macht sicher einen Unterschied. Einmal wirken die Bilder, die wir in den
Medien sehen, aber noch besser ist der persönliche Eindruck vor Ort, die
Gespräche mit den Menschen. Sie haben mir das Gefühl gegeben, wir müssen
hier etwas tun, wir müssen ihnen helfen. Das sind Menschen, die flüchten,
weil sie Angst um ihr Leben, Angst um ihre Familie haben, oder weil sie
eine hoffnungslose Situation in ihrer Heimat wiederfinden. Niemand verlässt
gerne seine Heimat. Niemand tut es vor allem mit nichts in der Hand, so wie
die meisten Menschen, die hier ankommen.
Sie halten also Diskussionen um Wirtschaftsflüchtlinge für überflüssig?
Ich will nicht blauäugig wirken und sagen, wir können jetzt alle aufnehmen,
auch diejenigen, die kommen, weil es ihnen wirtschaftlich zu Hause schlecht
geht. Das werden wir nicht hinbekommen, in Deutschland allein jedenfalls
nicht. Aber eine Kategorisierung und eine Wertung der Fluchtgründe, sehe
ich nicht. Die rechtliche Situation sagt eben, es gibt Menschen, die mit
großer Wahrscheinlichkeit eine Asylberechtigung haben, und es gibt andere,
die mit geringer Wahrscheinlichkeit auf Erfolg einen Asylantrag stellen.
Trotzdem könnten wir viele der Flüchtlinge in unserem Arbeitsmarkt gut
brauchen.
Wie meinen Sie das?
Wir haben Bedarf an Zuwanderung. Wir haben weniger Auszubildende, als
Lehrstellen, da spricht die Wirtschaft mit einer Stimme. Ich frage mich,
wäre es deshalb nicht sinnvoller, einen legalen zweiten Weg zu schaffen,
wie ein Einwanderungsgesetz. Da denkt ja mittlerweile auch sogar die Union
drüber nach. Es wäre schon schön, wenn wir das hinbekommen würden.
Was passiert in diesen Tagen in einem Politiker, der Tag für Tag die
Flüchtlingsmassen am Hauptbahnhof vor Augen hat?
Also ich war beeindruckt von der enormen Hilfsbereitschaft in München –
unglaublich! Ganz unterschiedliche Menschen, ehrenamtlich Engagierte, dazu
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung. Alle haben hier
ganz großartig zusammen geholfen. An einem einzigen Wochenende waren ja
zigtausende Flüchtlinge in München angekommen. Dass wir diesen Menschen
einfach das Gefühl geben, sie werden hier vernünftig aufgenommen, sie
werden medizinisch untersucht, sie werden verpflegt, sie werden willkommen
geheißen, auch wenn wir gleichzeitig mit Dolmetschern darauf hingewiesen
haben, dass sie gegebenenfalls in andere Bundesländer weiterfahren würden.
Viele sind zum Beispiel nach Nordrhein-Westfalen gefahren. Wir haben es
ihnen erklärt, sie haben uns vertraut. Sie wussten, dass wir sie nicht
wieder zurück nach Ungarn schicken würden. Insoweit ist es schon ein
bewegender Moment. Eine große Herausforderung, eine große Verantwortung und
gleichzeitig so viele gute Erfahrungen – wie zum Beispiel, als wir nach
einem einzigen Aufruf über die Sozialen Netzwerke eine Stunde später 200
freiwillige Helfer vor Ort am Bahnhof hatten, die fragten: Was kann ich
tun? Wie kann ich helfen? Wir haben immer noch Vormerklisten von vielen
hundert Helferinnen und Helfern. Das ist für mich ein Zeichen, dass die
Zivilgesellschaft hier in München sehr gut funktioniert.
Was macht die CSU anders, dass sie sich von der Flüchtlings-Dramatik
offenbar nicht anrühren lässt?
Ich will jetzt gar nicht werten, ob das so ist. Ich bin froh, dass wir in
München bei den regelmäßigen Beschlüssen über Standorte für
Flüchtlingsunterkünfte eine breite Mehrheit im Münchner Stadtrat haben,
inklusive der CSU. Dabei geht es um die Flüchtlinge, die wir nach dem
Königsteiner Schlüssel dauerhaft bei uns unterbringen. Es muss gerade bei
diesem Thema einen demokratischen Konsens geben. Weil wir allen rechten
Strömungen und Agitationen entschieden entgegentreten müssen.
Aber die Landes-CSU lädt jetzt Victor Orbán ein.
Ich hätte ihn nicht eingeladen. Ich glaube nicht, dass wir von Victor Orbán
Flüchtlingspolitik lernen können. Die Bilder, die ich aus Ungarn gesehen
habe, die möchte ich ungern irgendwo bei uns sehen. Ich kenne die
Argumentation von Horst Seehofer, dass Orbán die Außengrenzen der EU
schützt, was sicher rein geographisch gesehen richtig ist. Nur deswegen
gibt ihm das noch lange nicht das Recht, mit den Flüchtlingen umzugehen,
wie wir das gesehen haben. Ich glaube auch nicht an eine effektive Sperrung
der Grenzen wie in Ungarn. Ich glaube, dass ein Absperren von Grenzen
niemals die Lösung des Problems sein kann.
Tag für Tag passieren Tausende Flüchtlinge München – Menschen, die künftig
menschenwürdig leben müssen, eine Perspektive und natürlich auch eine
Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung brauchen. Ganz ehrlich. Haben Sie
manchmal Angst um die Zukunft dieser Gesellschaft?
Es ist auf jeden Fall eine der größten Herausforderungen seit vielen
Jahren, um nicht zu sagen Jahrzehnten für unsere Gesamtgesellschaft. Damit
meine ich jetzt nicht München, nicht nur Deutschland, sondern ich meine
insbesondere auch Europa. Ich glaube, jetzt muss Europa den Beweis
antreten, dass es mehr als ein Finanztransfer-Verschiebebahnhof ist. Dass
Europa eine Idee des gemeinsamen Zusammenwachsens und der
Friedenssicherung, dass es eine Wertegemeinschaft ist, das merkt man
derzeit eher nicht. Nächste Woche soll es jetzt einen EU Sondergipfel zur
Flüchtlingsfrage geben, endlich, möchte ich sagen. Dieses Thema sollte bei
der EU eigentlich täglich auf der Tagesordnung stehen.
Wie legitim ist das Oktoberfest vor dem Hintergrund der Flüchtlingsmisere
in Europa?
Also, das kann ich aus Münchner Sicht eindeutig beantworten: Ich will das
Thema der zu uns geflüchteten Menschen nicht als Misere bezeichnen. Ich
glaube gerade, weil es eine hohe Befassung mit dem Thema Flüchtlinge gibt,
ist es notwendig, auch so etwas wie das Oktoberfest durchzuführen, weil das
Leben weitergeht. Es ist ja keine Katastrophe, die wir erleben. Wir haben
hier eine neue Herausforderung für unsere Gesellschaft, die aber in München
nicht ganz neu ist. Wir sind eine Stadt mit einem sehr hohen
Migrationsanteil. In München haben etwa die Hälfte der unter 25-Jährigen
einen Migrationshintergrund. Das heißt, wir sind eine Stadt, in der
Zuwanderung immer schon eine große Rolle gespielt hat. Und deswegen braucht
man das Thema nicht zu dramatisieren – und darüber nachdenken, das
Oktoberfest abzusagen.
Hätte es ohne Offenheit von München eine Öffnung der deutschen Grenzen
gegeben?
Es gab Bilder, die um die Welt gingen. Und die waren gerade im starken
Kontrast zu den anderen Bildern aus Deutschland, von brennenden
Asylunterkünften, die man ja fast im Tagesrhythmus gesehen hat. München hat
gezeigt: Es geht auch anders. Für mich ist es nicht wichtig zu bewerten,
was wir ausgelöst haben, für mich ist wichtig, in unserer Gesellschaft die
Überzeugung zu stärken, dass wir den Menschen, die da kommen, helfen
müssen. Das ist ein humanitäres Grundgesetz.
18 Sep 2015
## AUTOREN
Tobias Krone
## TAGS
Dieter Reiter
München
Flüchtlinge
Freistaat Bayern
Migration
Empathie
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Oktoberfest
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