# taz.de -- Bayerns Lokalpolitiker auf Berlin-Fahrt: Für Herrn Reiter ist das … | |
> Münchens OB fuhr mit Kollegen nach Berlin. Ihre Region erstickt am | |
> eigenen Erfolg, sie fordern Geld für neue Infrastruktur. Mit mäßigem | |
> Erfolg. | |
Bild: Der Münchner OB Dieter Reiter (SPD) sticht das erste Bierfaß des Oktobe… | |
MÜNCHEN/BERLIN taz | Ein eisiger Dienstagmorgen. Auf einem Bahnsteig im | |
Süden Münchens wartet eine große Menge Fahrgäste. Der Lautsprecher | |
schnarrt. „Die S-Bahn fällt aus. Im Weiteren kommt es zu erheblichen | |
Verspätungen.“ | |
Weichen zugefroren, Leitungen vereist? Wieder mal die Stammstrecke | |
blockiert, auf der alle Linien in Münchens Zentrum zusammenlaufen? | |
Jedenfalls geht nichts. Einer Frau steht die Panik ins Gesicht geschrieben. | |
Sie muss zum Flughafen. Aber es gibt keine Schienenspange, die die | |
Innenstadt umgeht, und auch immer noch keinen Flughafen-Express. | |
Wenig später steigt vor dem Münchner Rathaus Oberbürgermeister Dieter | |
Reiter (SPD) in einen doppelstöckigen Reisebus. Mit ihm eine Delegation aus | |
Stadträten, Bürgermeistern und Landräten aus dem Münchner Umland, rund 50 | |
Leute. Sie alle lassen an diesem Tag das Alltagsgeschäft ruhen, um denen | |
„da oben“ in Berlin mal ordentlich Dampf zu machen. „Wir wollen mehr Geld | |
für Straßen- und Schienenbauprojekte“, macht Reiter den Punkt klar, während | |
der Bus auf der A 9 Tempo aufnimmt. „Dieses ständige S-Bahn-Chaos ist das | |
beste Beispiel dafür.“ | |
Er ärgert sich, dass es in Berlin immer heißt: „Ihr da unten im Süden seid | |
doch so reich!“ Damit stehle sich der Bund aus der Verantwortung. „Unsere | |
Steuereinnahmen und Millionengewinne, die die Münchner U- und S-Bahn | |
machen, nimmt er ja auch gerne“, setzt er süffisant nach. Deswegen zuckelt | |
er nun in dieser symbolträchtigen Aktion in die Bundeshauptstadt. Nach | |
Berlin zu fliegen hätte nicht denselben Effekt gehabt. | |
Reiters Ziel: Am Abend will er bei einem parlamentarischen Abend bei | |
Bundesverkehrsminister Alexander Dobrinth (CSU) und dessen bayerischen | |
Kollegen, dem Innenminister Joachim Herrmann (CSU), der im Land auch fürs | |
Bauen zuständig ist, für ein paar Projekte werben. So müsste die A 8 nach | |
Salzburg, die Hauptschlagader Richtung Brenner, endlich ausgebaut werden. | |
Eine der wichtigsten Bahntrassen Europas, die von Paris über München | |
Richtung Osten führt, ist teilweise noch nicht mal elektrifiziert. | |
## „Da kennen wir kein Rot oder Schwarz“ | |
Reiters Leib- und Magenprojekt ist aber die zweite S-Bahn-Stammstrecke, | |
nach der Münchner und Umlandbewohner schon seit Jahren lechzen. Deswegen | |
gehe es bei dieser Fahrt auch nicht um Parteizugehörigkeit. „Da kennen wir | |
kein Rot oder Schwarz“, pflichtet ihm Gabriele Bauer (CSU) bei, die als OB | |
von Rosenheim mit zu dieser Fahrt geladen hat. „Jeden Tag pendeln 10.000 | |
Berufstätige aus meiner Stadt nach München und wieder hinaus.“ | |
Die „Metropolregion“ München ist der Wirtschaftsmotor Bayerns. Hier siedeln | |
Global Player wie Linde, MAN, Krauss Maffei, EADS, BMW, Infineon, Siemens, | |
Microsoft oder Adobe dicht an dicht. Banken und Versicherungen, Verlage und | |
TV-Stationen haben hier ihren Sitz. Das Bruttoinlandsprodukt liegt 35 | |
Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Es herrscht fast Vollbeschäftigung. | |
Und die Jobmaschine lockt immer mehr Menschen an. | |
Zugleich erstickt die Region an ihrem eigenen Erfolg. Bereits heute leben | |
dort 5,7 Millionen Menschen. Bis 2032 soll noch einmal eine halbe Million | |
hinzukommen. „Wie soll das funktionieren, wenn die Leute keine Wohnung | |
finden und nur im Stau stehen?“, fragt Reiter. | |
In der oberen Etage fährt auch der Bürgermeister der Gemeinde Poing mit, | |
das 20 Kilometer nordwestlich von München liegt. „Zu uns ziehen jedes Jahr | |
2.000 neue Bürger. Am S-Bahnhof drängen sich morgens die Leute bis fast an | |
die Bahnsteigkante. Wir mussten schon die Bepflanzung zurückschneiden | |
lassen, um Platz zu schaffen.“ Zum Beweis zeigt er ein Foto auf seinem | |
Smartphone. Er würde sich eine kürzere Taktung mit mehr Zügen wünschen. | |
Genau das hat aber keinen Sinn, solange es in der Innenstadt keine | |
Entlastung durch eine zweite Stammstrecke gibt. „Der MVV ist in 1970er | |
Jahren für 250.000 Personen gebaut worden, jetzt schaufelt er jeden Tag das | |
Dreifache durch die Stadt“, schildert Reiter die Problematik. „Die kleinste | |
Störung und das ganze System liegt quasi lahm.“ Seit Jahren fordert die | |
Stadt den Bau einer zweiten Tunnelröhre, die rund 3 Milliarden Euro kosten | |
würde und von Bund, Freistaat und der Bahn bezahlt werden müsste. | |
## 150 Quadratmeter für 3.000 Euro Kaltmiete | |
Draußen laufen die fränkischen Hügel aus. OB Reiter packt die | |
Schafkopfkarten aus und beginnt die Rosenheimerin und einen Landrat | |
auszunehmen. „Aber nur um Pfennigbeträge!“, wie er betont. Zur Spielrunde | |
gehört auch der Bürgermeister der Stadt Erding, Max Gotz. Das Thema kommt | |
auf den bezahlbaren Wohnraum. Den gibt es in München und Umland kaum, weil | |
der soziale Wohnungsbau seit 20 Jahren sträflich vernachlässigt wurde. | |
Zugleich steigen in der „Boomtown“ die Mieten ins Fantastische. | |
Für eine 150 Quadratmeter große, zentrale, schicke Altbauwohnung kann man | |
schon 3.000 Euro Kaltmiete abdrücken, für weniger repräsentative Wohnungen | |
derselben Größe gute 2.000 Euro. „Wer soll sich das noch leisten? Bei uns | |
finden ja scho Leit mit guadem, mittlerem Einkommen keine Wohnung mehr, des | |
san ned nur die Krankenschwestern oder Mechatroniker“, schimpft Reiter. | |
Das Thema wird angesichts der Flüchtlinge gerade noch brisanter. | |
Bundesbauministerin Barbara Hendricks hat beim Asylgipfel zwar deutlich | |
mehr Mittel für den sozialen Wohnungsbau versprochen. „Nur: In der Stadt | |
haben wir keine Flächen mehr, auf denen wir was bauen könnten“, erklärt das | |
Stadtoberhaupt. | |
Aber da wäre doch das riesige Gelände des einstigen Fliegerhorsts von | |
Erding, 40 Kilometer von München entfernt. In Flughafennähe könnten dort | |
auf den 365 Hektar Tausende günstige Wohnungen entstehen. Der Knackpunkt: | |
Ein Abkauf zum marktüblichen Preis ist ausgeschlossen. Selbst bei | |
läppischen 100 Euro pro Quadratmeter würde der 365 Millionen Euro kosten. | |
„Des kenna mir uns doch nicht leisten!“, ruft der Erdinger Bürgermeister | |
Gotz und haut die Karten auf den Tisch. | |
Das Konzept, die Mandatsträger für sieben Stunden in einen Raum zu packen, | |
geht auf. Sie tauschen Plätze, ratschen miteinander. Der OB lässt sich | |
überall mal blicken. Endlich tauchen die Häuser Berlins auf. Einige Gäste | |
gähnen, dabei kommt der wichtige Teil des Tages erst. | |
## Konkrete Zahlen werden umschifft | |
Der Vortragssaal im Haus der Deutschen Wirtschaft ist rappelvoll. Eine | |
Hundertschaft weiterer Vertreter der Münchner Umlandgemeinden ist zur | |
Podiumsdiskussion gekommen, um heute „ihrem Reiter“ den Rücken zu stärken… | |
obwohl gleich der FC Bayern spielen wird. | |
Da ist es eine Belohnung, dass mit Verkehrsminister Alexander Dobrindt | |
(CSU) noch ein Stargast auftaucht, der eigentlich abgesagt hatte. Mitten in | |
der Diskussion verkündet Joachim Herrmann, die Bayern hätten nach 20 | |
Minuten das dritte Tor geschossen. Der Abend ist jedenfalls gerettet. | |
Reiter bringt noch mal alle seine Argumente vor. „Wenn der Bund will, dass | |
München weiterhin Wirtschaftslokomotive ist, muss er mehr tun!“ Das zeitigt | |
offenbar Wirkung. Applaus im Saal, als Dobrinth das Versprechen gibt, auf | |
das die Geladenen am meisten gewartet haben: „Ja, wir unterstützen den Bau | |
der Stammstrecke – ohne Wenn und Aber.“ Er meint: Egal wie teuer das wird. | |
Und Herrmann verspricht: „Im kommenden Jahr werden die Verträge | |
unterschrieben.“ | |
Konkrete Zahlen aber werden umschifft. Ist das trotzdem der Durchbruch? | |
Reiter ist optimistisch. „Eine so klare Aussage haben wir noch nie | |
gekriegt.“ Im Foyer erschallt Blasmusik. Der Bürgermeister von Oberhaching | |
spielt seine Tuba, der Landrat von Bad Tölz seine Klarinette. Es gibt | |
Laugensemmeln und Weißbier für alle. Bayerisches Dahoam-Gefühl breitet sich | |
aus. | |
## Reiter und Gehb kreuzen die Klingen | |
Am nächsten Tag sieht die Welt weniger rosig aus. Beim Frühstück in der | |
Landesvertretung Bayerns prallen die Vorstellungen von Kommunen und | |
Bundesbehörde aufeinander. OB Reiter und Jürgen Gehb, Chef der | |
Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima), kreuzen die Klingen. Die | |
staunenden Gäste lassen den Kaffee in ihren Tassen kalt werden. Vom | |
Überschreiben des Militärgeländes an die Stadt Erding, einer Entwicklung | |
durch die Stadt und einer Rückzahlung in günstigen Raten will Gehb nichts | |
wissen. „Bei den Verhandlungen wird mittlerweile gefeilscht wie auf dem | |
orientalischen Basar.“ | |
Das bringt Reiter auf die Palme: „Sie tun ja gerade so, als gehörten Ihnen | |
die Flächen persönlich! Wenn die Bima aber Grundstücke nur zu Bestpreisen | |
verkauft, kann man keine Genossenschaften gewinnen, die sich für den | |
sozialen Wohnungsbau engagieren!“ Er beugt sich über den Tisch in Richtung | |
seines Sparringpartners. „Was soll dann auf so einem Gelände entstehen, | |
wenn es ausschließlich an private Investoren verkauft wird – Shoppingmalls, | |
Luxuswohnungen?“ | |
Da steigt dem Bima-Chef die Zornesröte ins Gesicht. „Ich bin von Rechts | |
wegen verpflichtet, Höchstpreise zu erzielen. Wenn Sie eine | |
Gesetzesänderung wollen, ist das Sache des Bundestags. Dann hätten Sie | |
nicht mich zu so einem Frühstück einladen dürfen!“ | |
Am Ende gehen die Kontrahenten auseinander – grußlos und ohne Handschlag. | |
Vor dem Haus steht der wartende Bus. Deutlich leerer als auf der Hinfahrt. | |
Viele der Kommunalpolitiker sind mit dem Flieger früher zurückgereist. Auch | |
der OB fährt zum Flughafen. Seinen Teil der Mission hat er erfüllt, findet | |
er: „Nun ist Berlin gefordert, den Worten auch Taten folgen zu lassen.“ | |
27 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Margarete Moulin | |
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