Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- US-Autorin Leslie Jamison über Empathie: „Meine Gefühle waren k…
> Mit ihrem Buch „Die Empathie-Tests“ hat Leslie Jamison in den USA einen
> Nerv getroffen: ein Gespräch über Angst, Schmerz und Mitgefühl in Zeiten
> der Krise.
Bild: Viele halten sie für die nächste Susan Sontag: die Autorin Leslie Jamis…
taz: Im vergangenen Jahr wurde viel über Empathie diskutiert. Woran liegt
das?
Leslie Jamison: Es überrascht eigentlich mehr, dass es eine Zeit gegeben
haben soll, in der sie kein großes Thema war. Sie ist so ein grundlegender
Teil davon, wie wir uns aufeinander beziehen. Die Frage ist nicht so sehr
„Warum jetzt?“, sondern „Warum nicht früher?“.
Sie sehen keine konkreten Anlässe?
Zumindest in den USA kann es damit zusammenhängen, dass gewisse Krisen
einen Siedepunkt erreicht haben. Die Polizeigewalt gegen schwarze Männer
etwa oder die bloße Zahl von Massenschießereien, die nun fast regelmäßig
geschehen. Es gibt einfach diese gewalttätigen Krisen, die die Fragen
aufwerfen: Wie reagieren wir darauf? Wenn gewisse Formen der Gewalt drohen,
zur Normalität zu werden, wie bekämpfen wir diese Normalität? Wie
verhindern wir, dass sich diese Probleme in unserer Gesellschaft fest
verwurzeln? Das bringt die Notwendigkeit der Empathie auf eine andere Art
und Weise ans Licht.
In welchem Verhältnis steht die Empathie zur Solidarität?
Was ich an Empathie als Konzept mag, ist, dass es einen emotionalen
Denkprozess beschreibt, in dem man versucht, sich in die Erfahrung eines
anderen hineinzuversetzen. Für mich evoziert Solidarität die Idee von
Positionierung, von „zur Seite stehen“. Das bringt Aspekte ins Spiel, die
wichtig sind, die aber der Begriff Empathie nicht beinhaltet – also die
Wichtigkeit, nicht nur zu spüren, zu denken, sondern auch einzugreifen.
Solidarität meint auch Aktion. Aber Empathie bezeichnet direkter diesen
Kern des Verständnisses, den Versuch, die Erfahrung anderer zu verstehen
und die Grenzen auszutesten, was dieses Verstehen sein könnte.
Sie werden zu Themen von Ebola bis #BlackLivesMatter befragt. In einem
Artikel für den Guardian haben Sie geschrieben, Sie seien keine
Empathie-Expertin, sondern eine Empathie-Verkäuferin. Was heißt das?
Im Idealfall ist meine Stimme nur eine in einem Gespräch. Und genau das ist
das Schreiben ja. Aber es gibt diese Idee, dass ich darüber sprechen kann,
was ich in den verschiedenen Welten gesehen habe, in die ich gereist bin,
worüber ich berichtet habe und dass ich den Prozess des Miterlebens, des
Hinterfragens teilen kann. Es ist nur ein Modus, der einzige Modus, den ich
gut kann. Idealerweise steht dieser neben den Modi, die andere haben, um
über Empathie nachzudenken.
Sie wurden oft mit Susan Sontag verglichen. Sie scheint auch eine große
Inspiration für Sie zu sein?
Ihre Arbeit ist für mich ungemein provokativ und prägend. Ihr Buch „Das
Leiden anderer betrachten“ ist immer noch fester Bestandteil meines
Denkens. Viele Ideen, die sie in diesem Buch vorstellt, sind für mich
grundlegend, wenn es darum geht, was die Gefahren dabei sind, den Schmerz
anderer Menschen zu betrachten, und was letztlich moralisch notwendig und
von Wert ist. Aber ich glaube, meine Stimme unterscheidet sich auch von
ihrer.
Wodurch?
Susan Sontag hat „Krankheit als Metapher“ geschrieben, ohne einmal zu
erwähnen, dass sie Krebs hatte. Es ist möglich, dass ich das auch tun
würde, aber unwahrscheinlich. Ihre Tagebücher sind weniger selbstbekennend,
sondern eher ein Bericht über ihre Gedankengänge. Der ganze Antrieb meines
Schreibens, sogar wie ich in der Welt lebe, wie ich mich mit Menschen
unterhalte, geht darum, etwas mit meinen Erfahrungen zu erhellen. Insofern
bin ich besonders selbstbekennend.
In Deutschland ist gerade von „besorgten Bürgern“ die Rede, also Anhänger
rechtspopulistischer Bewegungen, die an islamophobischen und
Anti-Flüchtlings-Protesten teilnehmen. Wie können PolitikerInnen darauf
reagieren? Manche versuchen, diese Sorgen ernst zu nehmen, doch
selbstverständlich teilen sie nicht den Glauben an eine Lügenpresse und
eine Islamisierung des Abendlandes.
Meine Übersetzerin hat mir gestern Abend davon erzählt, dass fast jeden Tag
ein Flüchtlingsheim in Brand gesetzt wird. Aber Deutschland macht einiges,
was ich mir auch von anderen Ländern wünsche, nämlich weiterhin mehr
Flüchtlinge aufzunehmen. Doch so eine Politik, auch wenn sie natürlich eine
gute ist, vergrößert die Gegenreaktion. Angst ist einer der tiefsten
Urinstinkte, die wir haben. Rechtspopulistische Bewegungen zehren von
irgendeiner Sehnsucht von Menschen, die sich ungehört fühlen. Sie verleihen
ihnen eine Stimme und lassen sie zusammenkommen. Ich glaube, einige
Lösungen dazu erfordern eine größere, strukturelle Empathie, die mit den
strukturierenden Lebensumständen dieser Menschen zu tun hat, die dafür
sorgen, dass sie sich ungerecht behandelt, unsichtbar fühlen. Diese Sachen
haben weder etwas mit dem Islam noch mit Flüchtlingen zu tun, sondern mit
etwas, was für diese Menschen in der Gesellschaftsordnung nicht
funktioniert.
Gauben Sie andersherum, dass die Anti-Flüchtlings-Bewegungen auf einen
Mangel an Empathie zurückzuführen sind?
Ein Teil von mir glaubt wirklich, dass jeder, der direkt von einer
wirkungsvollen, persönlichen Geschichte eines Flüchtlings erfährt, sich
dadurch in irgendeiner Form einfach ändern muss. Die Realität sieht
wahrscheinlich anders aus, denn diese Geschichten gibt es ja da draußen.
Aber ich träume von einem Experiment, bei dem ein
Anti-Flüchtlingsdemonstrant mit jemandem in einem Raum zusammengebracht
wird, der nach zwei Jahren aus Syrien flüchten konnte. Ich denke gerade an
eine Reportage im New Yorker, die die Flucht eines Syrers nach Schweden
durch viele europäische Länder erzählte, sie beschrieb die Gewalt, den
Terror und die Not. Ich habe einfach das Gefühl, dass es irgendwas ändern
müsste, wenn einer seine Geschichte liest. Ich glaube schon, dass Empathie
irgendeine Rolle spielen könnte, um diese Angst zu kontern. Aber die Angst
ist manchmal so laut, dass sie die Geschichten, Realitäten und Erfahrungen
anderer Menschen übertönt. Es geht darum, diese lauter zu drehen.
Wie haben Sie sich nach den Anschlägen in Paris gefühlt? Haben Sie
versucht, sich in den Schmerz der Betroffenen hineinzufühlen? Können wir
das überhaupt?
Es gab gewisse Momente, in denen ich tatsächlich dankbar war, einer
besonderen menschlichen Geschichte zu begegnen. Zum Beispiel als ich mir
dieses Viral-Video angeschaut habe, mit dem Mann, der seine Frau verloren
hatte, die einen kleinen Jungen hinterlassen hat, der sagte „Ich werde
Ihnen das Geschenk meines Hasses nicht geben“. Meine Gefühle waren aber
kompliziert. Ich hatte so viel Mitgefühl mit den Opfern, gleichzeitig hatte
ich aber das Gefühl, dass das nichts Neues war, außer dass es das erste Mal
in Paris war. Das erinnert mich eigentlich daran, was Susan Sontag über den
Krieg im ehemaligen Jugoslawien schrieb. Es gab etwas besonders
Schockierendes an dieser Brutalität und der Möglichkeit des Völkermords in
Europa statt an diesen Orten, wo man es vielleicht mehr erwartet. Es war
notwendig zu erkennen, dass Paris abscheulich war, Beirut abscheulich war
und das, was seit Jahren in Syrien passiert, abscheulich ist. Paris war
Teil eines Horrorsystems.
[1][Zum Abschluss Ihres Buches „Die Empathie-Tests“ stellen Sie Ihre „Gro…
Universaltheorie über den weiblichen Schmerz“ vor.] Unterscheiden Sie
zwischen weiblichem und männlichem Schmerz?
Manchmal denke ich, als Nächstes sollte ich eine „Große Universaltheorie
über den männlichen Schmerz“ schreiben, weil es nie meine Absicht war zu
behaupten, dass der weibliche oder männliche Schmerz kategorisch oder im
Ansatz unterschiedlich sind, oder dass diese Sache mit der Scham dafür, den
eigenen Schmerz zu artikulieren, besonders weiblich ist, oder dass allein
Frauen sich dafür schämen, Schmerz zu empfinden. Weil ich glaube, dass
Männern sogar mehr Scham dafür anhaftet, Schwäche, Verletzlichkeit oder
Schmerz einzugestehen.
Was für mich besonders daran war, über weiblichen Schmerz zu schreiben, hat
mit dieser potenziellen Glorifizierung eines gewissen Schmerzes zu tun, der
für Frauen auf eine andere Weise operativ ist. Das hat mit einer gewissen
Zerbrechlichkeit zu tun, die begehrenswert werden kann. Entweder für
Frauen, die versuchen sich nach außen zu tragen, oder für Männer, die sich
darum kümmern können. Ich wollte untersuchen, wie dieser positive Glanz des
Schmerzes funktioniert und wie Widerstand dagegen geleistet werden kann,
dass beabsichtigte Zerbrechlichkeit Teil der weiblichen Psyche wird.
Es gab also Fragestellungen, die damit zu tun hatten, dass Frauen viele
Jahre eine entmächtigte Stellung in der Gesellschaft innehatten, in der ihr
Schmerz zu einem Teil ihrer Identität wurde. Es gibt eine Reihe kultureller
Gründe dafür, warum es für Frauen etwas anderes bedeutet, von Schmerz als
Teil ihrer Erfahrung zu erzählen. Diese kulturellen Faktoren wollte ich
betrachten. Dabei bin ich auf diese Studie gestoßen, „The Girl Who Cried
Pain“, die ich in meinem Buch erwähne. Es geht darum, wie
Selbsteinschätzungen von Frauen über ihren Schmerz im medizinischen Bereich
anders behandelt werden als die von Männern. Die Studie hat genau das
bestätigt, was ich seit Langem geahnt hatte.
Nämlich?
Dass es ein gewisses Abwerten der weiblichen Schmerzerfahrung als
theatralisch gibt, statt als eine authentisch artikulierte Erfahrung
wahrgenommen zu werden.
9 Jan 2016
## LINKS
[1] /Leslie-Jamisons-Essay-ueber-Empathie/!5240186/
## AUTOREN
Nicholas Potter
## TAGS
Empathie
Terroranschlag
Flüchtlinge
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
wochentaz
USA
9/11
Schwerpunkt Flucht
Philosophie
Twitter / X
Psychologie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Essaybuch der US-Autorin Leslie Jamison: Vermissen, was nicht war
Wie Elternschaft und Kunst vereinen und mit dem Beziehungs-Aus umgehen? Im
Essaybuch „Splitter“ analysiert Leslie Jamison ihre vergangenen Jahre.
Leslie Jamisons Roman „Der Gin-Trailer“: Das Leben der anderen
Warum hat fast jede Familie ihre schwarzen Schafe? Diese Frage stellt sich
US-Autorin Leslie Jamison in ihrem Roman „Der Gin-Trailer“.
15 Jahre nach 9/11: Der Himmel über Ground Zero
Vor 15 Jahren zerstörten Terroristen das World Trade Center. Seither
herrscht Angst in den USA. Ein Besuch an der Gedenkstätte in Manhattan.
Schwedisch-dänische Grenze: Kalte Heimat
Seitdem die Öresund-Brücke gesperrt ist, versuchen Flüchtlinge mit Booten
nach Schweden zu gelangen. Die Meerenge könnte zur tödlichen Falle werden.
Philosophisch ins neue Jahr: Die Heiterkeit zur rechten Zeit
Ausgerechnet Arthur Schopenhauer als Lebensberater für das lauernde Jahr:
Seine Einsichten machen uns nicht glücklich, aber gelassener.
Autor über die Krise der Kritik: „Das Resultat ist Selbstzerfleischung“
Thomas Edlinger bemängelt in seinem Buch „Der wunde Punkt“ die
Inflationierung der Kritik. Und meint damit vor allem Besserwisser und
Nörgler im Netz.
Leslie Jamisons Essay über Empathie: Schmerz und Mitgefühl
In einer aufregenden Mischung aus Essay, Reportage und Erzählung erkundet
Leslie Jamison die letzten Winkel der menschlicher Psyche.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.