# taz.de -- Essaybuch der US-Autorin Leslie Jamison: Vermissen, was nicht war | |
> Wie Elternschaft und Kunst vereinen und mit dem Beziehungs-Aus umgehen? | |
> Im Essaybuch „Splitter“ analysiert Leslie Jamison ihre vergangenen Jahre. | |
Bild: Jamison: der nie enden wollenden Drang zu arbeiten, sowohl aus einem inne… | |
Jede Sprache hat Wörter, die in andere kaum übertragbar sind, nur | |
umschrieben werden können. Im Walisischen gibt es den Begriff hiraeth, was | |
in etwa bedeutet: „Heimweh nach einem Ort, der nicht mehr existiert oder | |
vielleicht nie existiert hat“. Dieses Sehnsuchtsgefühl empfindet Leslie | |
Jamison, wenn sie an ihre gescheiterte Ehe zurückdenkt. „Ich vermisste | |
nicht das, was gewesen war, sondern das, was nicht gewesen war – ich hatte | |
Heimweh nach dem, was wir uns beide erhofft hatten.“ | |
[1][Die US-amerikanische Essayistin] widmet sich in ihrem neuen Buch | |
„Splitter“ dieser gescheiterten Ehe, der Frage, wie man Mutterschaft mit | |
dem Schreiben unter einen Hut bringt, und Reflexionen über die Einsamkeit, | |
die sich mit dem Ausbruch der Pandemie vertieft. „Another Kind of Love | |
Story“ lautet der Untertitel im Original – die Liebe, von der hier die Rede | |
ist, gilt nicht den Männern, sondern umschreibt ihre völlige Hingabe zur | |
neugeborenen Tochter, „meine Tochter. Unsere Tochter. Das Pluralpronomen | |
vergaß ich immer.“ | |
Das Memoir ist nicht so zersplittert wie der Titel andeutet. Es beginnt mit | |
der zunächst noch glücklichen Beziehung mit ihrem späteren Ex-Mann C. (bei | |
dem es sich um den hierzulande unbekannten Autor Charles Bock handelt) und | |
einer überstürzten Hochzeit in Las Vegas. Doch schnell holt der Alltag sie | |
ein; als das Kind geboren wird, sind beide schon lange in Paartherapie. Wie | |
viele hoffen sie, „ein Baby würde uns dazu zwingen, zu einer neuen, | |
besseren Version unserer Beziehung zu finden“. Doch natürlich geschieht das | |
Gegenteil, die Trennung ist so alltäglich wie unschön. | |
Jamison changiert zwischen den Gefühlen, sieht in C. einerseits einen | |
liebenden Vater, andererseits auch einen Mann voller Wut, der sie einmal | |
mit den Worten „Warum isst du nichts, du magersüchtige Schlampe“ | |
beschimpft. Seine Sicht auf die Trennung erfahren wir nicht. Immerhin: Er | |
muss um seine Darstellung in „Splitter“ gewusst haben, an einer Stelle wird | |
erwähnt, dass Jamison auf sein Bitten hin nicht über seine Tochter aus | |
erster Ehe schreibt. | |
Das zweite große Thema für Leslie Jamison ist ihre Doppelrolle als Mutter | |
und als [2][Schriftstellerin und Dozentin]. Wieder und wieder betont sie, | |
wie sehr sie ihre Tochter liebt, beschreibt aber auch die Monotonie und | |
Schlaflosigkeit, die der Alltag mit einem Baby mit sich bringt. Und den nie | |
enden wollenden Drang zu arbeiten, sowohl aus einem inneren Antrieb heraus, | |
als auch um der Welt zu beweisen: Ich packe das. Als das Baby unmittelbar | |
nach der Geburt zur Lichttherapie muss, klappt sie sofort ihren Laptop auf, | |
um einen Artikel zu redigieren. | |
„Ich kann der reisende Vater und die fürsorgliche Mutter sein“, sagt sie | |
sich auf einer Lesereise und weiß zugleich, „nur dank meiner Mutter konnte | |
ich beides tun“, dank der Mutter, die ihr wiederholt das Kind abnimmt. | |
Jamison ist nicht darauf aus, sich selbst in ein gutes Licht zu rücken. | |
„Ich weiß nicht, ob ich [meine Tochter] deshalb jedes Mal mitnahm, weil ich | |
so an ihr hing, oder weil ich mein Leben nicht ihretwegen umstellen | |
wollte.“ | |
„Splitter“ ist streckenweise ein wirklich gelungenes Buch, das Memoir | |
besticht (von einigen arg blumigen Ausrutschern abgesehen) mit Leslie | |
Jamisons klarer Prosa, interessanten Gedanken und diesen Momenten der | |
Sehnsucht, hiraeth, die die Geschichte durchdringen. Allerdings offenbart | |
das Essay bei all der Selbstreflexion und all ihrem Willen, sich ungeschönt | |
darzustellen, zugleich auch Wahrnehmungslücken. | |
So bezeichnet sich Jamison mehrfach als alleinerziehend, dabei übernimmt C. | |
die Tochter zweimal die Woche. Gewiss, die Hauptlast liegt immer noch auf | |
ihr als Mutter (die teilweise von ihrer eigenen Mutter aufgefangen wird), | |
doch alleinerziehend ist sie deswegen noch nicht – sie vergisst auch im | |
übertragenden Sinn das Pluralpronomen, das „unsere“ Tochter. | |
## Die tiefere Bedeutung des Alltags | |
Ein weiteres Problem von „Splitter“ ist, dass Jamison versucht, eine | |
tiefere Bedeutung aus sämtlichen alltäglichen Situationen zu schälen. Ihren | |
Studierenden gibt sie den (eigentlich sehr guten!) Tipp, „die anekdotischen | |
Geschichten, die wir uns selbst und anderen über unser Leben erzählen“ | |
aufzubrechen. „Wirf die Cocktailparty-Fassung raus […], damit ihr an die | |
komplexere Geschichte darunter kommt: das Heimweh hinter der Wut, die Angst | |
hinter dem Ehrgeiz.“ | |
Jamison beherzigt ihren eigenen Ratschlag – keine Seite in „Splitter“ | |
gleicht der Cocktailparty-Fassung. Aber: Nicht jedes Gefühl, nicht jedes | |
Erlebnis ist so inhaltsschwer, wie sie stellenweise vorgibt. Ein wenig mehr | |
bei der Normalität zu verbleiben und nicht alles als profundes Erlebnis zu | |
framen, hätte dem Memoir gutgetan. | |
Die stärksten Passagen sind die, in denen Jamison das macht, wofür sie | |
eigentlich bekannt ist: journalistische Arbeit mit Autofiktion verknüpfen. | |
Etwa wenn sie im Brooklyn Museum darüber nachdenkt, dass sich Judy Chicago | |
und Marina Abramović gegen Kinder entschieden haben, aus Angst, sonst keine | |
Kunst mehr machen zu können. | |
Oder wenn sie Flavin Judd kontaktiert, den Sohn des alleinerziehenden | |
Künstlers Donald Judd, um von ihm zu erfahren, ob Kinder und Kunst | |
miteinander vereinbar sind, und frustriert ist, als er ihr nicht gibt, was | |
sie hören will: „Er beharrte darauf, dass die Elternschaft die Kunst seines | |
Vaters nicht geprägt hatte.“ Jamisons Memoir zumindest zeigt, dass es auch | |
anders geht – denn ohne ihre Tochter hätte es dieses Buch wohl nicht | |
gegeben. | |
14 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Isabella Caldart | |
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