| # taz.de -- Roman von Susan Taubes: Weil du tot bist | |
| > Susan Taubes schrieb einen Roman über eine Intellektuelle, deren | |
| > Erfahrungen in einer patriarchalen Welt entwertet werden. Nun erscheint | |
| > er neu. | |
| Bild: Nahm sich 1969, kurz nach Erscheinen dieses Romans, das Leben: Susan Taub… | |
| Susan Taubesʼ Romanheldin schreibt ein Buch. Aber was für eines? Das | |
| würde jeder gern von Sophie Blind, so der Name der gefragten Philosophin | |
| und Mutter zweier Kinder, wissen; ihr Psychoanalytikervater, ihre frivole | |
| Mutter, sogar ihr Geliebter Ivan. Aber die Antwort auf diese Frage ist | |
| etwas verstörend, denn ihr Werk wird „von einer Toten … erzählt“. Mehr | |
| noch, diese Tote ist die Protagonistin selbst. | |
| Denn als Sophie Blind zu Beginn des Romans aus unruhigen Träumen in einem | |
| New Yorker Zimmer erwacht und sich ihr die Wirklichkeit immer wieder | |
| entzieht, weiß ihr Geliebter bereits, woran das liegt: „Weil du tot bist, | |
| Sophie.“ Um es genau zu sagen, wurde sie laut amtlichem Bericht geköpft, | |
| bei einem Autounfall in Paris. Kein Grund, um Trübsal zu blasen, findet | |
| Taubesʼ Heldin, die sich mit einem Mal so „quicklebendig“ fühlt wie nie u… | |
| beschließt, ihre neue Lage dazu zu nutzen, ihr Leben unter die literarische | |
| Lupe zu nehmen: „Jetzt, wo ich tot bin, liegt mir allein an der Wahrheit.“ | |
| Das Verstörendste an diesem herrlich verrückten autobiografischen Roman der | |
| Philosophin und Religionswissenschaftlerin Susan Taubes ist freilich der | |
| Umstand, dass sich die Autorin, wie zur Beglaubigung der von ihrem | |
| Roman-Alter-Ego gesuchten Wahrheit, am 6. November 1969, wenige Tage nach | |
| dem Erscheinen des Romans, das Leben nahm. Unmittelbarer Anlass soll der | |
| Verriss eines Kritikers der New York Times Book Review gewesen sein, der | |
| die erzählerische Experimentierfreude von „Divorcing“ (so der | |
| Originaltitel) [1][unter „Frauenliteratur“ verbuchte;] tatsächlich litt die | |
| Autorin aber schon seit Längerem unter Depressionen – nachzulesen in der | |
| großen Susan-Taubes-Biografie von Christina Pareigis (Wallstein Verlag, | |
| 2020). | |
| Eine Herausforderung fürs Publikum ist der Roman freilich auch heute noch, | |
| und es ist gut, dass der Verlag die Neuausgabe sowohl mit einem | |
| kenntnisreichen Vorwort der [2][Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel] | |
| versehen hat als auch mit einem einfühlsamen Essay der [3][US-Autorin | |
| Leslie Jamison]. | |
| Immerhin schraubt sich das zwischen den Zeiten springende Werk nicht nur | |
| wie eine umgestülpte Biografie kapitelweise bis in Sophies Kindheit im | |
| Vorkriegs-Budapest zurück – und damit bis zum Urtrauma der Heldin, der | |
| Flucht vor den Nazis 1939 als Zehnjährige an der Seite ihres Vaters, also | |
| dem abrupten Verlust ihrer Kindheitswelt mit jüdischer Großfamilie und | |
| einer selbstsüchtigen Mutter, die lieber an der Seite eines anderen Mannes | |
| in Ungarn zurückblieb. | |
| ## Um die Freiheit kämpfen | |
| Nein, der Roman wechselt auch munter zwischen erster und dritter Person so, | |
| wie die reisefreudige Heldin zwischen Europa und den USA hin und her | |
| fliegt. Und er stellt wie selbstverständlich Träume neben | |
| Kindheitserinnerungen, realistische Alltagsszenen als alleinerziehende | |
| Mutter oder um ihre Freiheit kämpfende Gattin neben fantastische oder | |
| satirische Szenarien. In Letzteren verwandelt sich eine Hochzeit in eine | |
| Beerdigung. Oder ein Kongress in eine Gerichtsverhandlung um die Ehre der | |
| toten Sophie, die an ein absurdes Theaterstück à la Beckett erinnert. | |
| Taubes lässt ihre Heldin sogar dabei zuschauen, wie ihr Ex-Ehemann in der | |
| Morgue Krokodilstränen vergießt und Sophies Leichnam zum Ebenbild der | |
| jungen Frau auf den Hochzeitsfotos zurechtfrisieren lässt, wie zum Beleg | |
| dafür, dass er Sophies Kampf um ihre Selbstständigkeit und Identität nie | |
| wirklich anerkannt hat. | |
| Dass die Autorin, geboren 1928 als Tochter des Freud-Schülers Sándor | |
| Feldmann und Enkelin des Großrabbiners von Budapest, in ihrem Roman ihre | |
| 1961 geschiedene Ehe mit dem bedeutenden Religionswissenschaftler Jacob | |
| Taubes (1923–1987) verarbeitet hat, ist hinlänglich bekannt. Dennoch darf | |
| man das Werk weder als „Schlüsselroman“ noch als „erweiterten | |
| Abschiedsbrief“ missverstehen, wie Sigrid Weigel zu Recht betont. | |
| ## Diagnose Elektrakomplex | |
| Wovon der Roman vielmehr ein bewegendes Zeugnis ablegt, ist die | |
| verzweifelte Suche nach einer weiblichen Identität in einer patriarchalen | |
| Welt, die Sophies Erfahrungen fortwährend entwertet: beginnend mit dem | |
| Erlebnis, vom Analytikervater als Kind mit der Diagnose „Elektrakomplex“ | |
| gleichsam auf die Couch gelegt zu werden, über den Verlust ihrer Identität | |
| nach ihrer Ankunft in den USA bis zur Erfahrung, bei ihrer Hochzeit trotz | |
| ihrer intellektuellen Ebenbürtigkeit mit dem jungen (und notorisch | |
| untreuen) Philosophen Eszra „nur eine Gussform zu sein, um dann sehr | |
| langsam mit einer dünnen, gleichmäßigen Flüssigkeit aufgefüllt zu werden, | |
| die allmählich erhärten würde“. | |
| Im Roman scheint der Konflikt zwischen Sophies unbändigem Freiheitswillen | |
| und den Fesseln überkommener gesellschaftlicher Strukturen | |
| überraschenderweise gut auszugehen. „Du bist nicht eine Frau, sondern viele | |
| Frauen“, bemerkt einer ihrer Geliebten über Sophies Zerrissenheit zwischen | |
| intellektueller und sexueller Existenz, „du hast ein unwahrscheinliches | |
| Problem damit, dich zwischen Spinoza und einer Existenz als Playgirl in | |
| Acapulco zu entscheiden.“ | |
| Susan Taubes lässt ihre Protagonistin, in ein Badetuch dieses Geliebten | |
| eingewickelt, die beängstigende Erfahrung von Freiheit erleben, „sämtliche | |
| Persönlichkeiten abgelegt …, die ganzen alten Hüllen und Wickel, darunter | |
| auch nie getragene, allesamt verbrannt. Diese Nacktheit, das weiß sie, kann | |
| nie wieder bedeckt werden.“ Der anfängliche Tod ihrer Heldin – man muss ihn | |
| wohl als Metapher für diesen ersehnten Zustand größtmöglicher Freiheit und | |
| Offenheit verstehen. | |
| 9 Jan 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Oliver Pfohlmann | |
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