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# taz.de -- Benjamin-Britten-Oper in Lübeck: Die Phantome der Hauslehrerin
> In Stephen Lawless’ Inszenierung von „The Turn of the Screw“ entspringen
> die Gespenster dem Kopf der Hauptfigur. Gruselig bleiben sie.
Bild: Stars der Inszenierung: Evmorfia Metaxaki als Gouvernante und Jakob Geppe…
Es ist nicht schrecklich lange her, dass „The Turn of the Screw“ auf eine
norddeutsche Bühne gebracht wurde: Vor knapp einem Jahr, im April 2021,
[1][inszenierte Immo Karaman Benjamin Brittens Kammeroper] in Hannover. Es
war seine insgesamt dritte Befassung damit, und [2][eine Rezension] wies
seinerzeit darauf hin, dass Karaman auch diesmal „keine
Hitchcock-Anspielung vermissen“ lasse – und dass, überhaupt, die Struktur
des Stückes, ein Prolog und 16 Szenen, „eine filmisch angelegte
Interpretation durchaus nahe“ legten.
Karaman orientierte sich damals betont am Film Noir – oder, um im Bild zu
bleiben, am frühen Hitchcock. Dieser so einflussreiche Meister der
filmischen suspense, aber auch eines bisweilen merkwürdig sezierenden,
fremdelnden Interesses an der weiblichen Psyche: Seine Spuren lassen sich
auch wiederfinden in Stephen Lawless’ Bearbeitung von „The Turn of the
Screw“, die am Freitag in Lübeck Premiere feierte – mittlerer Teil eines
ganzen Britten-Zyklus, den im Sommer vergangenen Jahres seine Bearbeitung
des pazifistischen „Owen Wingrave“ eröffnet hatte und die in der Spielzeit
2022/23 dann „Albert Herring“ beschließen soll.
Schon die literarische Vorlage, Henry James’ Gruselnovelle, 1898
zuallererst in Zeitschriftenfortsetzungen erschienen, arbeitet mit Rahmung
und Verschachtelung und einer Erzählsituation von, gelinde gesagt,
fragwürdiger Zuverlässigkeit: Da wird dem Erzähler von einer anderen Person
eine Geschichte vorgelesen, in Ich-Form verfasst von einer dritten. Wie
klar deren Geist ist, mithin, wie glaubwürdig die Ausgangserzählerin: damit
zu spielen interessiert die Lübecker Inszenierung nun ganz besonders.
Für die 1954 uraufgeführte Oper ließen Britten und seine wiederholte
Librettistin Myfanwy Piper einen Sänger die Exposition singen; die
Geschichte also von der namenlosen jungen Gouvernante, die im Auftrag von
deren Onkel zwei Waisenkinder auf dem abgelegenen Landsitz Bly erziehen
soll. Die Stelle erhält sie unter drei Bedingungen: Sie darf den Onkel im
fernen London nie kontaktieren wegen der Kinder, sich nie schlau machen
über die Geschichte von Bly House – und die Kinder nie verlassen.
Bei Lawless liefert diesen rahmenden Monolog nun aber ein Mann im weißen
Kittel (Wolfgang Schwaninger), ein väterlicher Arzt im Ambiente eines
Krankenhauses im frühen 20. Jahrhundert, mitsamt Metallbett und blassblau
gekachelten Wänden. Und die Gouvernante (Evmorfia Metaxaki) lernen wir als
zunächst wortlose Patientin kennen, als Insassin dieser
Vielleicht-Heilanstalt.
Von hier aus tritt sie also die Stelle an, wobei das immer wieder sehr
clevere Bühnenbild von Frank Philipp Schlößmann die räumliche wie zeitliche
Distanz zusammenschnurren lässt; überhaupt wird den Abend über im Schutze
weißen Vorhangstoffs in Echtzeit reichlich viel umgebaut und verschoben,
trennen Wände und Fenster manchmal auch die Sphären. Der Fremde, den die
Gouvernante draußen vorbeigehen sieht, entpuppt sich als Peter Quint
(nochmals: Wolfgang Schwaninger), ein vormaliger Diener des Hauses. Bloß
ist der doch lange tot, ist ihr erzählt worden, je nachdem, wem man glauben
möchte, infolge eines Unfalls auf eisig glatter Straße – oder doch als
„Kinderschänder“ gerichtet durch vigilante Dorfburschen?
Nicht nur könnte, ja: soll dieser Quint sich an den Kindern vergangen
haben, an Flora (Nataliya Bogdanova) und Miles (Jakob Geppert, der diese
Rolle auch in Hannover schon gesungen hatte). Nein, auch Miss Jessel
(Sabina Martin), eine frühere Gouvernante, habe er auf dem Gewissen; wie
genau, das bleibt unklar. Aber auch sie erscheint nun ihrer Nachfolgerin:
Spukt es also auf Bly – oder verliert die Hauptfigur einfach den Verstand?
Nahrung erhält diese zweite Lesart, wenn Regisseur Lawless ausdrücklich
davon spricht, dass, bei aller zu wahrenden Ambiguität des Stoffes, Quint
und Miss Jessel „nicht gespensterhaft“ darzustellen seien: Denn „sie sind
Gedanken, Erinnerungen, die unserer Vergangenheit entstammen und ins
Bewusstsein vordringen, um uns zu quälen“. Was ist davon zu halten, wenn
sich, ebenfalls im Programmheft ein Exzerpt aus den Freud’schen „Studien
zur Hysterie“ findet – ironischerweise aber falsch einem „Sigmund Freund�…
zugeschrieben?
Auch auf der Bühne säen die wiederholten wortlosen Auftritte des Arztes vom
Anfang Zweifel daran, dass wir der zunehmend gepeinigt wirkenden
Gouvernante trauen dürfen. Am Ende, und das ist kein echter spoiler, wird
sie wieder auf dem Bett sitzen, im blau gekachelten Zimmer. War alles, was
wir gut zweieinviertel Stunden lang miterlebt haben, also überhaupt real?
Hat es dann auch gar keine Verbrechen gegeben und also keine Opfer? Die
Inspiration zur Vorlage soll Henry James früh im Jahr 1895 durch eine
Erzählung eines Geistlichen erhalten haben. Der habe erzählt von sehr
realem, schrecklichem Geschehen „in einem alten Landhaus“, von „schlechten
und verdorbenen Dienstboten“, die die ihnen überlassenen Kinder „verführen
und verderben“. Bloß: James’ Novelle war ja keine Reportage und kein true
crime, sondern Literatur. Und Britten/Piper drehen den Stoff nochmal weiter
durch die Symbolismusmaschine; machen daraus eine Geschichte um Unschuld
und Begehren, Uneingestandenes und allenfalls verklausuliert
Auszusprechendes, gefärbt auch durch Brittens höchst eigene Zutaten:
Homosexualität in einer sie weiß Gott nicht akzeptierenden Umgebung,
wahrscheinlich auch eigene Missbrauchserfahrungen.
Man kann die dann doch recht deutliche Absage ans eigentlich so Offene des
Stoffes für eine Schwäche halten oder für eine ganz und gar legitime
Entscheidung des Regisseurs. So oder so bleibt diese Inszenierung eine
visuell immer wieder aufs Beste überraschende, gesanglich auch mal
beeindruckende Angelegenheit – vielleicht noch vor Hauptdarstellerin
Metaxaki ist Sopran Geppert klar der Star des Abends.
16 Mar 2022
## LINKS
[1] /Oper-The-Turn-of-the-Screw-in-Hannover/!5762801
[2] https://www.concerti.de/oper/opern-kritiken/staatsoper-hannover-the-turn-of…
## AUTOREN
Alexander Diehl
## TAGS
Oper
Lübeck
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