| # taz.de -- Literatur und Frauen: Der kleine Schreib-Unterschied | |
| > Bücher von Schriftstellerinnen werden gerne abgewertet. Nicole Seifert | |
| > wirft in die Debatte, dass der Begriff „Frauenliteratur“ weg kann. | |
| Bild: Von Frauen über Frauen für Frauen: Das stellt Autorinnen fast automatis… | |
| Das wahrscheinlich erste Erwachsenensachbuch meines Lebens las ich Mitte | |
| der 80er Jahre, und erstaunlicherweise hatte es eine Frau verfasst. Noch | |
| heute sind 70 Prozent aller Sachbuchautor:innen männlich, gerade in | |
| diesem Segment mangelt es hartnäckig an Autorinnen. | |
| Die Publizistin Norgard Kohlhagen porträtierte 1983 in „ ‚Sie schreiben wie | |
| ein Mann, Madame!‘ Von der schweigenden Frau zur schreibenden Frau“ 19 | |
| damals schon halbwegs kanonisierte Schriftstellerinnen quer durch die | |
| vergangenen 200 Jahre Literaturgeschichte – von Karoline von Günderode über | |
| Virginia Woolf bis Marie Luise Kaschnitz. | |
| Meine Mutter hatte es vermutlich auf Empfehlung der Brigitte gekauft und | |
| schüttelte empört den Kopf darüber, dass Frauen wie Mary Ann Evans alias | |
| George Eliot oder die Brontë-Schwestern sich im 19. Jahrhundert männliche | |
| Pseudonyme zulegen mussten, um überhaupt gelesen zu werden. | |
| Jedes Porträt war von einer Illustration begleitet, Zeichnungen nach | |
| berühmten Gemälden oder ikonischen Fotografien der Autorinnen. Mein | |
| zwölfjähriges Ich sortierte und las die Kapitel in der Rangfolge ihrer | |
| „Schönheit“ – oder dessen, was ich damals für schön hielt. | |
| Meine kurzhaarige, sportliche Mutter war hier kein Maßstab; es mussten | |
| langhaarige, engelhafte Wesen sein wie Sylvia Plath, die sich mit Anfang | |
| dreißig mit Hilfe eines Gasherds das Leben nahm. Bizarrerweise legte ich | |
| also diese Etappe emanzipatorischen Lernens in der finsteren Spur | |
| weiblicher Objektifizierung zurück, von der ich offenbar längst geprägt | |
| war. | |
| ## Frauen-Literatur | |
| Das Buch und die mit seiner Lektüre verbundenen Widersprüche fielen mir | |
| wieder ein, als ich Nicole Seiferts Sachbuch „Frauen Literatur“ las (Verlag | |
| Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 18 Euro). Seifert ist Jahrgang 1971, | |
| promovierte Literaturwissenschaftlerin und arbeitet als Autorin, Lektorin | |
| und Übersetzerin in Hamburg. | |
| Auch sie schreibt über sich als Zwölfjährige: Damals begann sie, eine | |
| Praxis ihres Vaters zu übernehmen, der seine eigene Lesebiografie von | |
| Kindheit an durchnummeriert und mit Autor:in, Titel, Seitenzahl und einer | |
| Schulnote als Bewertung dokumentiert hatte. Der Vergleich der Listen zeigt, | |
| dass bei Seifert die Zahl der Autorinnen zunimmt – aber es sind nicht die | |
| Bücher, die in der Schule auf dem Lehrplan stehen oder aus dem Bücherregal | |
| ihres Vaters stammen, sondern die, die sie sich selber kauft. | |
| Jahrzehnte später rezipiert sie gezielt über mehrere Jahre ausschließlich | |
| Literatur von Frauen und berichtet in ihrem Blog nachtundtag über | |
| Klassiker, Neuerscheinungen und Wiederentdeckungen. Angelehnt an die Studie | |
| #frauenzählen, die die Präsenz von Frauen in Medien und Literatur | |
| untersucht, hat sie darüber hinaus zusammen mit ihrer Kollegin Berit Glanz | |
| in #vorschauenzählen Verlagsprogramme in Hinblick auf Genderungleichheit | |
| ausgewertet. | |
| Fakten und Erkenntnisse aus diesen Projekten sind mit eingeflossen in | |
| Seiferts Essay, das kurz und vielleicht manchmal zu bündig erklärt, wie | |
| strukturelle Misogynie weibliches Schreiben lange Zeit abgewertet, unter | |
| Trivialitätsverdacht gestellt und aus dem Diskurs gedrängt hat. Schon der | |
| Titel spielt doppeldeutig darauf an: Der performative Strich durch die | |
| Frauen illustriert nicht nur, wie die Hälfte der Menschheit aus der | |
| Literatur herausgehalten wurde. | |
| ## Sex, Liebe, Figurprobleme | |
| Als „Frauenliteratur“ wiederum haben nicht nur Männer, sondern auch Frauen | |
| selbst lange jenes Unterhaltungssegment rund um Sex, Liebe und | |
| Figurprobleme bezeichnet, das Autorinnen wie Helen Fielding, E. L. James | |
| und Hera Lind kommerziell extrem erfolgreich bespielen, wobei Letztere ihre | |
| Romanstoffe inzwischen aus den „authentischen Lebensgeschichten“ ihrer | |
| Leserinnen generiert. „Der Begriff ‚Frauenliteratur‘ kann eigentlich weg�… | |
| findet Seifert, schon deshalb, weil sein Gegenstück „Literatur“ heiße. | |
| Aber wer bestimmt, was Literatur ist – und was davon wert, bewahrt zu | |
| werden? Der Kanon als kulturelles Archiv spielt für diese Prozesse eine | |
| zentrale Rolle; bestückt und gehütet wurde er traditionell von Männern, die | |
| an den Schaltstellen von Universitäten, Verlagshäusern und Redaktionen die | |
| Weichen stellten. | |
| Diese geordnete Welt ist schon länger im Umbruch, spätestens aber mit der | |
| Digitalisierung, durch die Leser:innenkritiken, Blogger:innen und | |
| Fanforen neben die Autorität und Expertise der Feuilletons treten, | |
| Kritiker:innen bei sexistischen oder rassistischen Ausfällen in den | |
| sozialen Medien ordentlich Gegenwind kriegen und Aktivistinnen unter dem | |
| Hashtag #diekanon Alternativen zum Kanon auflisten. | |
| ## Goethe, Schiller, Eichendorff | |
| Leider dürfte es trotzdem noch eine Weile dauern, bis sich das auch in | |
| germanistischen Karrieren und Lehrplänen niederschlägt: Im Berliner | |
| Deutsch-Abitur werden jedenfalls auch 2022 noch Goethe, Schiller und | |
| Eichendorff geprüft. Je mehr weibliche Perspektiven in den Kanon Eingang | |
| finden, desto mehr Ermunterung, Bezugsgrößen und Vorbilder gibt es für | |
| nachfolgende Generationen schreibender Frauen. | |
| Anders als noch Norgard Kohlhagen, der in den 80ern wahrscheinlich gar | |
| nicht auffiel, dass ihre Auswahl sehr weiß und sehr westlich war, plädiert | |
| Nicole Seifert für einen Kanon, der neben weiblichen auch ausdrücklich | |
| nichtwestliche, migrantische und queere Stimmen mit einschließt. | |
| Überhaupt ist ihr Essay reich an Lektüreempfehlungen, insbesondere von | |
| wiederzuentdeckenden Autorinnen wie Gabriele Reuter, deren | |
| gesellschaftskritischer Bestseller „Aus guter Familie“ (28 Auflagen!) | |
| zeitgleich mit Fontanes „Effi Briest“ erschien, im Gegensatz zu jenem aber | |
| in Vergessenheit geriet, oder der zurzeit wieder viel gelesenen | |
| US-amerikanischen Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin, aber auch | |
| von schwarzen Schriftstellerinnen wie Ann Petry, Zora Neale Hurston oder | |
| Audre Lorde (Octavia S. Butler ist auch toll!). | |
| Lässt sich überhaupt rekonstruieren, warum etwa Gabriele Reuter in der | |
| Versenkung verschwand, während „Effi Briest“ den Siegeszug in die | |
| Lehrpläne und auf Stadttheaterspielpläne antrat, wenn auch „mit anderem | |
| Text und anderer Melodie“? | |
| ## Trivialitätsverdacht | |
| Seifert zitiert literaturwissenschaftliche Untersuchungen, denen zufolge | |
| „Aus guter Familie“ zwar nach Erscheinen durchaus positive Besprechungen | |
| erhielt und sogar von Prominenten wie Sigmund Freud und Viktor Klemperer | |
| lobend erwähnt wurde, aber letztlich doch mit „weniger Raum, schlechterer | |
| Platzierung, und der Markierung als ‚von einer Frau, über Frauen, für | |
| Frauen‘ innerhalb der Literaturkritik“: Letztere stelle Romane von | |
| Autorinnen fast automatisch unter „Trivialitätsverdacht“, auch wenn der | |
| „erfahrungsbedingt spezifisch weibliche Blick“ ein breites Formenspektrum | |
| von der Horrorgeschichte über den Entwicklungsroman bis zum | |
| autofiktionalen Bericht umfasst. | |
| Auch wenn sich durchaus „etwas tut“, wie Seifert mit Blick auf mehr | |
| weibliches Schlüsselpersonal und an Schriftstellerinnen verliehene Preise | |
| einräumt, würden Kitsch- und Banalitätsvorwürfe Frauen gegenüber nach wie | |
| vor schnell gezückt. Vier Beispiele führt sie dafür unter dem Zwischentitel | |
| „Ein paar Verrisse aus jüngster Zeit“ an, ohne die Kritiker namentlich zu | |
| nennen. | |
| Doch auch wenn die Porträts und Verrisse von Inger-Maria Mahlke, Judith | |
| Hermann und Deniz Ohde in der Wortwahl komplett danebengriffen oder | |
| mansplainten und unfreiwillige Einblicke ins Kritiker-Unbewusste | |
| eröffneten: Alle drei Autorinnen sind nichtsdestotrotz ausgezeichnet und | |
| preisgekrönt worden; Judith Hermann, die laut Edo Reents weder schreiben | |
| noch denken kann, gehört sogar zu den wenigen Autorinnen, deren | |
| „Sommerhaus, später“ Schullektüre ist. | |
| ## Weibliches Schreiben | |
| Dass Takis Würger, der das in der Tat seltsame Mahlke-Porträt schrieb, für | |
| seinen Roman „Stella“ selbst heftigste Verrisse kassierte, hätte Seifert | |
| ruhig erwähnen können – wie dass es auch Kritikerinnen gab, die Karen | |
| Köhlers „Miroloi“, dessen dystopische Verortung in einer bestimmten | |
| Tradition weiblichen Schreibens der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler | |
| in der taz angeblich verkannte, hoch problematisch fanden. | |
| Wegen „Frauen Literatur“ habe ich meinen zwei Jahre alten „Miroloi“-Ver… | |
| in der „Republik“ noch mal gelesen und festgestellt, dass er trotz heftiger | |
| Einwände insgesamt vorsichtiger formuliert war, als ich es in Erinnerung | |
| hatte. Gleichzeitig schadet es überhaupt nicht, immer wieder neu zu | |
| überprüfen, ob und zu welchem Anteil mein kritischer Blick, mein | |
| Kritiken-Schreiben insgeheim doch noch patriarchal, also „männlich“ geprä… | |
| ist. | |
| Als Literatur- und Theaterkritikerin musste ich mich Ende der 90er und | |
| Anfang der Nullerjahre in einem überwiegend männerdominierten Feld | |
| profilieren, war vorwiegend beeindruckt von als männlich identifizierten | |
| Rhetoriken und Kunstpraxen und hätte trotzdem jederzeit für mehr Feminismus | |
| plädiert. Auch an solche Selbstwidersprüche erinnert Nicole Seiferts Buch, | |
| das mit der Einsicht schließt, dass Misogynie sich „nicht einfach | |
| abschütteln lässt. Aber man kann sie sich bewusst machen und dagegen | |
| angehen.“ | |
| 16 Oct 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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