| # taz.de -- Lea Ypi über ihre Jugend in Albanien: Erbin der Dissidenten | |
| > Lea Ypi schildert fesselnd ihre Desillusionierung vom Sozialismus. Sie | |
| > vertraut weiterhin darauf, dass der Kampf um eine bessere Zukunft | |
| > weitergeht. | |
| Bild: Unterrichtet heute politische Theorie in London: Lea Ypi | |
| Ende 1990 verliert die elfjährige Lea Ypi gleich zweimal den Glauben. Zum | |
| einen an die sozialistische Gesellschaft stalinistischer Prägung, mit | |
| dem Enver Hoxas Albanien sich selbst von der Sowjetunion und den Staaten | |
| des Warschauer Pakts isolierte. Aber auch an das Bild, das Lea bis dahin | |
| von ihrer Familie hatte. | |
| Die „intellektuellen“ Eltern, die beide nicht studieren durften, was sie | |
| wollten, nämlich Literatur (die Mutter) und Mathematik (der Vater), haben | |
| ihre strebsame Pioniertochter bis dahin im Glauben erzogen, selbst voll | |
| hinter der sozialistischen Volksrepublik zu stehen. Dass der im Zweiten | |
| Weltkrieg mit den italienischen Besatzern kooperierende und deshalb als | |
| Verräter geschmähte Politiker Xhafer Ypi den Namen ihres Vaters trägt, | |
| betrachtet Lea genauso als Zufall wie die stille Weigerung ihrer Familie, | |
| ein gerahmtes Porträt des Diktators an die Wand zu hängen. | |
| „Die Wahrheit erfuhr ich, als sie mir nicht mehr gefährlich werden konnte, | |
| aber ich erfuhr sie auch in einem Alter, in dem ich mich fragen musste, | |
| warum meine Verwandten mich so lange belogen hatten“, stellt die 1979 | |
| geborene Autorin in ihrem zu Recht viel gelobten Memoir „Frei. | |
| Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ fest. Um ihre Tochter zu schützen, | |
| haben die Eltern ihre eigene dissidenten Biografien verschwiegen. | |
| Heute unterrichtet Ypi an der renommierten London School of Economics | |
| Politische Theorie mit Schwerpunkt auf den deutschen Philosophen Kant und | |
| Marx. „Frei“ war ursprünglich als ideengeschichtliche Abhandlung zum | |
| Freiheitsbegriff geplant, entwickelte sich dann aber zur sehr persönlichen | |
| und doch genau beobachteten Erinnerung an Kindheit und Jugend zwischen | |
| Kommunismus und Kapitalismus. | |
| Vor allem die Kapitel über die Zeit vor der albanischen „Wende“ prägt ein | |
| schelmisch-mitfühlender Blick auf das kindliche Ich, das „Onkel Envers“ Tod | |
| betrauert, anlässlich erster Demonstrationen das bereits kopflose | |
| Stalindenkmal im Stadtpark umarmt und seiner Lehrerin Nora die glückliche | |
| Gewissheit verdankt, dass das Leben in einer beschränkten Welt notwendig | |
| ist, um der wahren Freiheit im Kommunismus zuzustreben. Noch nicht mal die | |
| nach Sonnenmilch duftenden Touristenkinder aus dem Ausland kratzen daran. | |
| ## Coca-Cola und Linientreue | |
| Und doch durchziehen feine Risse diese verlogen heile Welt, in der alle | |
| wenig haben, aber manche eben doch ein bisschen mehr: So stiehlt | |
| Nachbarsfrau Donika, eine linientreue Postbeamtin, die frisch erworbene | |
| Coca-Cola-Dose der Ypis (im Albanien der Achtziger ein | |
| Einrichtungsprunkstück) aus der stets offenen Elternwohnung. | |
| Dieselbe Nachbarin verteidigt dann in den frühen Neunzigern flammend die | |
| Privatsphäre: Sie sei „ ‚nicht nur wichtig, wir haben einen Anspruch | |
| darauf. Ein Anrecht‘, erklärte Donika, und in ihrer Stimme lag alle | |
| Weisheit und Autorität, die sie sich während der vielen Jahre des | |
| Umschlägeöffnens angeeignet hatte.“ | |
| In „Frei“ eingeflochten sind liebevolle Porträts von Mutter, Vater und | |
| Großmutter Nini. Letztere ist eine Aristokratin aus Thessaloniki, die in | |
| der Folge des Zweiten Weltkriegs Besitz und Heimat verloren hat, aber nicht | |
| ihre Würde und Überzeugungen. Sie spricht grundsätzlich nur | |
| Oberschichtsfranzösisch mit der Enkelin und nimmt sie nach 1990 mit auf die | |
| erste Auslandsreise nach Griechenland, verknüpft mit der Hoffnung, Teile | |
| des verlorenen Familieneigentums zurückzugewinnen. | |
| ## Ein sanfmütiger Ehemann | |
| Während der Fahrt inhaliert Enkelin Lea die Konsumverlockungen des Westens | |
| – begreift aber auch, dass sie „das Ergebnis einer Entwicklung war, die sie | |
| (die Großmutter) aus ihren Leben gerissen und zu Jahren der Not, der | |
| Einsamkeit, der Verluste und der Trauer verdammt hatte“. | |
| Erfüllen sich mit dem Wechsel zur parlamentarischen Demokratie wenigstens | |
| die Freiheitsträume der Eltern? Leas pragmatische Mutter, eine fast schon | |
| konservative Apologetin des freien Markts, versucht sich eine Weile | |
| [1][erfolglos in der Politik;] während der Unruhen 1997 flüchtet die | |
| Ex-Mathelehrerin kurzentschlossen mit Leas Bruder per Schiff nach | |
| Italien, wo sie auch in den kommenden Jahren als Altenpflegerin arbeiten | |
| wird. | |
| Schon vorher hat sie ihrem sanftmütigeren Ehemann den Politikjob vermacht, | |
| bis er, der „im Herzen ein Dissident“ und Autoritätsverweigerer bleibt, in | |
| die Wirtschaft rutscht. Als Manager des größten albanischen Hafens in | |
| Durrës sitzt er angeblich notwendige Entlassungen aus, die die | |
| Schockstrategen von Weltbank und IWF der Übergangsgesellschaft verordnen | |
| und die vor allem Roma-Arbeiter:innen betreffen. | |
| ## Freiheit und Depression | |
| Kurz bevor Lea Ypi 1997 Abitur macht, kollabieren die Pyramidensysteme, in | |
| die etliche Albaner:innen ihre (oft im Ausland erwirtschafteten) | |
| Ersparnisse investiert haben. Der sogenannte Lotterieaufstand sorgt | |
| wochenlang für bürgerkriegsartige Zustände und dafür, dass die 18-Jährige | |
| praktisch gar nicht mehr das Elternhaus verlassen darf. Manche | |
| Schulfreundinnen und Nachbarskinder sind schon vorher nach Italien | |
| ausgewandert, nicht immer, um dort ihr Glück zu finden. | |
| „Freiheit“, ein anderes Wort für Depression? „Meine Familie setzte den | |
| Sozialismus mit Verleugnung gleich: die Verleugnung dessen, was sie sein | |
| wollten, des Rechts darauf, eigene Fehler zu machen, aus ihnen zu lernen | |
| und die Welt zu ihren eigenen Bedingungen zu entdecken. Ich setzte | |
| Liberalismus mit gebrochenen Versprechen gleich, mit der Zerstörung von | |
| Solidarität, mit dem Anspruch auf vererbte Privilegien und dem bewussten | |
| Ausblenden von Ungerechtigkeit.“ Mit am finstersten bestätigt sich Ypis | |
| Enttäuschung, wenn es um die geschlossenen Grenzen der angeblichen freien | |
| Welt geht. | |
| Anders als bei vielen Generationsgenoss:innen in den ehemaligen | |
| Ostblockländern zieht die doppelte Systemdesillusionierung, die Lea Ypi so | |
| fesselnd schildert, kein links- oder rechtsreaktionäres Denken nach sich, | |
| sondern ein Vertrauen darauf, dass der Kampf um eine bessere Zukunft | |
| weitergeht. | |
| ## Kant und Marx | |
| Vielleicht, weil Ypi [2][ihre gebeutelte Heimat] verlassen, ihr Leben | |
| endgültig woanders aufgebaut hat. Vielleicht, weil sich Kant und Marx, für | |
| die man sich natürlich auch entscheiden muss, gegenseitig in Schach halten. | |
| Vielleicht aber auch, weil das ideelle Familienerbe (ein materielles kommt | |
| tatsächlich später noch hinzu), die Erinnerung an die inzwischen Toten, an | |
| Vater und Großmutter, sie davor bewahrt. | |
| 1 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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