# taz.de -- Ismail Kadare „Der Anruf“: Das Verhältnis zwischen Diktator un… | |
> Hoxha und Stalin Rede und Antwort stehen: Was passiert, wenn der Diktator | |
> anruft? Davon erzählt der verstorbene Ismail Kadare in seinem letzten | |
> Roman. | |
Bild: Ein Drei-Minuten-Telefonat, das monatelang Tagesgespräch in Moskau waren… | |
Berlin taz | Es ist Samstag, der 23. Juni 1934. Josef Stalin befindet sich | |
im Kreml, Boris Pasternak in seiner Wohnung in der Wolchonkastraße 14 in | |
Moskau. Der Diktator greift zum Telefon, bei dem berühmten russischen | |
Schriftsteller Pasternak klingelt es. Er vernimmt die Worte einer | |
unbekannten Stimme, die zu ihm sagt: „Warten Sie, Genosse Stalin wird mit | |
Ihnen sprechen!“ Kurz darauf begrüßt ihn Stalin höchstselbst am anderen | |
Ende der Leitung; er wolle ihn sprechen, um ihn nach seiner Meinung zu | |
Ossip Mandelstam zu befragen. | |
Nur rund drei Minuten soll die Unterredung der beiden gedauert haben, drei | |
Minuten, die „monatelang das Tagesgespräch von ganz Moskau“ waren, wie | |
[1][der albanische Schriftsteller Ismail Kadare] in seinem Buch „Der Anruf“ | |
schreibt. Kadare versucht sich dem, was bei dem Telefonat gesagt wurde, | |
anzunähern, indem er zwölf verschiedene Versionen (und eine 13. als Epilog) | |
nebeneinanderstellt. | |
Sie unterscheiden sich mal kaum, mal deutlich voneinander. Er zitiert dabei | |
etwa aus dem Archiv des KGB, aus den Memoiren [2][der Autorin Nadeschda | |
Mandelstam (der Frau Ossip Mandelstams)] und den Aufzeichnungen der großen | |
Lyrikerin Anna Achmatowa, einer engen Freundin Ossip Mandelstams und | |
Pasternaks. | |
## Ossip Mandelstams „Stalin-Epigramm“ | |
Der Hintergrund: Der russische Dichter Ossip Mandelstam verfasst 1933 sein | |
„Stalin-Epigramm“, ein Spottgedicht über „jenen Bergmenschen im Kreml“… | |
zunächst nur einige Freunde von ihm kannten. Darin heißt es: „Und er | |
schmiedet, der Hufschmied, Befehl um Befehl – / In den Leib, in die Stirn, | |
dem ins Auge fidel. / Jede Hinrichtung schmeckt ihm – wie Beeren, / Diesem | |
Breitbrust-Osseten zur Ehren.“ | |
Im Mai 1934 wird Mandelstam verhaftet, gefoltert und nach Woronesch im | |
Süden Russlands verbannt; nach einer weiteren Verhaftung stirbt er 1938 in | |
einem Lager bei Wladiwostok. Pasternak hätte nun bei diesem Telefongespräch | |
ein gutes Wort für ihn einlegen können, doch er ist offenbar überfordert, | |
gibt sich unterwürfig und antwortet kaum mehr, als dass Mandelstam und er | |
unterschiedliche Schriftsteller seien. Woraufhin Stalin ihn fast lächerlich | |
macht und ihm entgegnet, er sei nicht mal imstande, für seinen Kollegen und | |
Genossen einzutreten. | |
Ismail Kadare ist der wohl berühmteste Schriftsteller Albaniens. Als | |
bedeutender Intellektueller hatte er ein wechselvolles Verhältnis zur Macht | |
und zum grausamen albanischen Herrscher [3][Enver Hoxha,] der bis zu seinem | |
Tod 1985 regierte. In „Der Anruf“ setzt er sich auch mit diesem Verhältnis | |
auseinander. | |
## Boris Pasternak und der Literaturnobelpreis | |
Der Roman beginnt mit einem autofiktionalen Teil: Kadare studiert Ende der | |
1950er Jahre in Moskau und ist mit dem „neuen“ Fall Pasternak konfrontiert. | |
Denn jenem Boris Pasternak, der mehr als zwanzig Jahre zuvor mit Stalin | |
telefonierte, soll 1958 der Literaturnobelpreis zugesprochen werden. Kurz | |
zuvor hatte er den Roman „Doktor Schiwago“ veröffentlicht, dessen | |
Protagonist von einem Sozialisten zu einem Dissidenten wird. Eine | |
öffentliche Hetzkampagne gegen den Schriftsteller setzt ein, er lehnt den | |
Preis schließlich ab. | |
Kadare wiederum hat genau darüber bereits in seinem Roman „Die Dämmerung | |
der Steppengötter“ (1978) geschrieben, im ersten Teil von „Der Anruf“ | |
greift er die Genese des Werks nun wieder auf. Und schreibt, er sei in | |
jenen Jahren auch vom albanischen Diktator Hoxha persönlich angerufen | |
worden, dieser habe ihm zur Veröffentlichung eines Gedichts gratuliert. Und | |
er habe nicht viel mehr als mehrmals „Danke“ gesagt. Kadare hat sich also | |
selbst in einer ähnlichen Situation befunden wie Pasternak, als Stalin | |
anrief. Es ist ein geschickt verwebter Roman, mit viel Intertextualität, | |
vielen Bezügen. | |
Es geht dabei grundsätzlich um das Verhältnis eines Diktators zum Dichter | |
(hier wohl eher nur Maskulinum) in verschiedensten Epochen. Kadare schreibt | |
in einer Passage: „Der Dichter und der Tyrann gehörten einfach nicht | |
zusammen. Aber es gab auch Widerspruch.“ | |
Der Tyrann und der Dichter | |
Ob man wolle oder nicht, hier habe man es mit zwei Ausformungen desselben | |
Phänomens zu tun: Herrschaft. „Jeder war der Gefangene des andern, im | |
gleichen Kreis der Hölle. Quälend und zerstörerisch beide, egal, ob drei | |
Minuten, drei Jahrhunderte oder drei Jahrtausende.“ Dann wieder heißt es | |
über den Mythos Tyrann versus Dichter, „das wahre Geschehen“ werde „durch | |
aufgebauschte oder frei erfundene Geschichten überlagert, die leicht | |
eingängig waren, aber auch schnell wieder vergessen wurden.“ | |
Damit spielt er schon auf das andere Thema seines Buchs an: wie Wahrheit | |
produziert und konstruiert wird. Die zwölf Versionen des Telefonats mit | |
Stalin ähneln einander, aber jede erzählt eine etwas andere Geschichte, | |
beispielsweise fällt die Schilderung Sinaida Pasternaks, der Ehefrau des | |
Dichters, deutlich milder (und verfälschender?) aus als andere. Der Aspekt | |
der Wahrheitsfindung ist in Zeiten von Fake News und Verschwörungstheorien | |
nicht unwesentlich bei der Rezeption. | |
## Letztes Buch vor seinem Tod 2024 | |
Der Roman erschien im Original 2018, es ist Kadares letztes zu Lebzeiten | |
erschienenes Buch, im vergangenen Jahr ist er im Alter von 88 Jahren | |
gestorben. Kadare selbst hat das Albanien unter Diktator Hoxha zu | |
unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich bewertet, ein Dissident war er | |
sicher nicht, auch wenn er Mitte der 1970er Jahre zeitweise | |
Publikationsverbot erhielt. | |
Reflektiert er über sein Verhältnis zur kommunistischen Diktatur? Ganz | |
sicher. Formuliert er Zweifel? Das kann man nicht abschließend beantworten. | |
Ins Nachdenken über das Verhältnis der „Großschriftsteller“ (wie man sie | |
damals noch nannte) zu diktatorischen Regimen kommt man aber ganz sicher. | |
Denn es geht um weit mehr als nur drei Minuten Telefongespräch. | |
7 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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