# taz.de -- Roman über globalisierte Arbeitswelt: Es sind alles nur Körper | |
> Tash Aw verbindet Fiktion mit realen Orten und dem Thema | |
> Arbeitsmigration. „Wir, die Überlebenden“ ist True-Crime-Story und | |
> Sozialkritik zugleich. | |
Bild: Arbeitssuchende Migranten auf einem Fischmarkt in Malaysia | |
Ah Hock hat einen Mord begangen, damit hält er von Anfang an nicht hinterm | |
Berg. Gleich zu Beginn ruft der Erzähler das Bild verfallender Häuser wach, | |
die von Bäumen überwuchert und doch gestützt werden: So verhalte sich auch | |
sein Leben zum Scheitern – untrennbar miteinander verflochten. | |
Dann berichtet er von der Nacht nach der Tat, als er klitschnass geschwitzt | |
am Flussufer entlangirrt und ans Gefängnis denkt, das ihm bevorsteht „bis | |
an mein Lebensende“. Später wird klar, er hat nur ein paar Jahre bekommen, | |
vermutlich, weil sein Opfer „nur“ illegaler Arbeitsmigrant war. | |
Für seinen vierten Roman „We, the Survivors“ (in der Übersetzung von Poci… | |
und Roberto de Hollanda „Wir, die Überlebenden“) wählt der malaysische | |
Autor Tash Aw eine interessante Konstruktion: Der Mörder erzählt zwischen | |
Anfang Oktober und Ende Dezember einer engagierten Soziologiestudentin | |
seine von Aufstiegshoffnung und Rückschlägen gezeichnete Lebensgeschichte, | |
anfangs für ihre Abschlussarbeit, bis sie daraus eine Art sozialer | |
True-Crime-Story entwickelt, gelegentlich ausgeschmückt mit | |
Regieanweisungen wie in einem Theaterstück. | |
Zwischen die scheinbar transkribierten Memoiren geschaltet sind Dialoge | |
zwischen Tan Su-Min und Ah Hock. Das soziale Gefälle zwischen dem | |
chinesischstämmigen Malayen aus den industriellen Vororten von Kuala Lumpur | |
und der in New York studierenden Su-Min, die in einer lesbischen Beziehung | |
lebt, ist dabei noch viel größer als das zwischen dem Täter und seinem | |
Opfer Mohammad Ashadul, einem Rohingya aus Myanmar. Ob auch der 1971 | |
geborene Tash Aw auf ein solches Zeugnis zurückgegriffen und sich in der | |
privilegierten jungen Frau porträtiert hat? | |
Ah Hock kommt aus einer armen Arbeiterfamilie. Sein Vater verlässt seine | |
Mutter und ihn, als er noch ein Kind ist, dem niemand offen erklärt, warum | |
die Erwachsenen welche Entscheidung treffen. Alles, was er mitbekommt, sind | |
plötzliche Veränderungen, etwa, als seine Mutter mit ihm zu „Onkel Kiat“, | |
einem entfernten Cousin des Vaters, zieht, der deutlich wohlhabender | |
scheint als der Rest des Dorfes. Abrupt endet bald auch diese Verbindung. | |
Doch während dieser Zeit begegnet Ah Hock erstmals Keong, einem Teenager, | |
der ebenfalls bei einer alleinerziehenden Mutter aufwächst, allerdings | |
gefühlt eine Spur prekärer. | |
## Ein verwahrlostes Haus | |
Ah Hocks Mutter kauft von ihren Ersparnissen ein verwahrlostes Haus mit | |
einem Stück Land in Meeresnähe. Mutter und Sohn roden in harter Arbeit, an | |
die er sich noch Jahre später körperlich erinnert, den Urwaldboden, | |
schaffen es, sich drei Jahre lang selbst zu versorgen und das Angebaute | |
sogar noch auf dem Markt zu verkaufen. | |
Doch Springfluten machen dem Geschäfts- und Lebensmodell ein Ende, „globale | |
Erderwärmung, sagten die Leute“. Dennoch erinnert Ah Hock diese Zeit als | |
glückliche, vielleicht, weil er sich mit der Fantasie, ein Held zu sein, | |
während er auf das Unterholz einhackt, erfolgreich zur Arbeit motivierte; | |
vielleicht, weil die Verheißung von Wohlstand greifbar schien. | |
Von Schule ist bald keine Rede mehr. Ah Hock jobbt als | |
Glasflaschenauslieferer, Kellner und Nachtwächter in der Hauptstadt, trifft | |
dort Keong wieder, der inzwischen dealt, kehrt zurück in die Hafenstadt | |
Klang, wo er auf einer Fischfarm zum Vorarbeiter aufsteigt. Er verliebt | |
sich in seine zukünftige Frau Jenny – sie kommt aus etwas besseren | |
Verhältnissen, und der Druck, ihr etwas zu bieten, prägt die Ehe. Ein | |
Häuschen, vielleicht Kinder, bescheidene Aufstiegsträume treiben die beiden | |
an und Jenny in eine Kosmetikfirma, die ihre Vertreterinnen per | |
Pyramidenschema ausbeutet. | |
## Cholera auf der Fischfarm | |
Ah Hock wiederum gerät ausgerechnet in Bedrängnis, als er seinen Chef | |
vertritt und die indonesischen Arbeiter auf der Fischfarm an Cholera | |
erkranken. Wieder gerät er an Keong, der inzwischen zum Zwischenhändler und | |
Fixer für Arbeitsmigrant:innen aus Bangladesch und Myanmar geworden | |
ist und behauptet, ihm helfen zu können. | |
Tash Aw, der selbst als Sohn malaysischer Eltern in Taiwan zur Welt kam, in | |
Kuala Lumpur aufwuchs und in England Jura studierte, bevor er | |
Schriftsteller wurde, nimmt sich Zeit, um Ah Hocks soziale Hintergründe aus | |
dessen Sicht zu erzählen, die Linien nachzuziehen, die ihn und Keong zu | |
trennen scheinen, auch wenn die beiden von außen betrachtet höchstens die | |
Moral unterscheidet. | |
Er hat sich in ihrer Vorstadtwelt genau umgesehen, nimmt Details wahr wie | |
die im Straßenstaub ergrauten Palmen, Betonböden und in dänischen | |
Butterkeksdosen verwahrten Ersparnisse, fast mehr aber noch Gefühlsnuancen | |
von Scham und Neid, die seinen Protagonisten quälen, ausbremsen, in die | |
falsche Richtung drängen. | |
## Grausames Geschäft | |
Eine melancholische, vielleicht schon resignierte Note liegt über dieser | |
[1][Erzählung aus der globalisierten Arbeitswelt,] und doch wird erst gegen | |
Ende, wenn Keong und Ah Hock zunehmend verzweifelt nach noch | |
[2][arbeitsfähigen Migrant:innen] suchen, das verstörende Ausmaß des | |
grausamen Geschäfts mit den in jeder Hinsicht noch weiter unten stehenden | |
Geflüchteten offenbar: „Männer oder Frauen, es sind alles nur Körper.“ | |
Aber ist es nicht wenigstens ein Trost, dass die Geschichten dieser Körper | |
literarisch erzählt werden können? Dass ein Mörder wider Willen, der selbst | |
Teil dieser Hoffnungslosigkeit ist, sein Leben reflektieren darf? | |
Tash Aw fällt darüber kein abschließendes Urteil, und geschrieben hat er | |
sein Buch ja de facto. Doch mit der Figur der engagierten Autorin lässt er | |
keinen Zweifel daran, dass Literatur und Reflexion knallharte Privilegien | |
sind: Während Su-Min ihr von der korrupten Polizei abgeschlepptes Auto fast | |
lieber der Stadt überlassen würde, als das geforderte Schmiergeld zu | |
bezahlen, ist für Ah Hock der Gedanke, gegen Korruption aufzubegehren, | |
geradezu absurd riskant. | |
Und als sie am Ende ihren Storyteller zur Buchpremiere in einen | |
wohlhabenden Vorort von KL einlädt, als Su-Min von „seiner Geschichte“ | |
spricht und Ah Hock beharrlich von „ihrem Buch“, ist klar, dass selbst | |
diese einander Wohlgesinnten über dasselbe Projekt von zwei Standpunkten | |
aus sprechen, die unvereinbar sind. | |
6 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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