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# taz.de -- Buch über die Zwischenkriegszeit: Verschlungene Fronten
> Die US-Historikerin Tara Zahra fördert Schillerndes über Globalisierung
> und rechte Antiglobalisierungsbewegungen zwischen den Weltkriegen
> zutage.
Bild: Arbeitsmigranten Anfang der 1930er in den USA. Droht der Welt gerade eine…
Am 4. Dezember 1915 legte in New Jersey ein Schiff ab. Das Ziel der Reise
war kühn: Man wollte dem vom Krieg zerfetzten Europa Frieden bringen.
Finanziert wurde das Projekt von dem US-Konzernchef Henry Ford. Die in
Ungarn geborene feministisch-pazifistische Aktivistin Rosika Schwimmer
hatte Ford davon überzeugt, dass man die europäischen Jungs „bis
Weihnachten aus den Schützengräben“ holen könne.
Ford, der antisemitische Tycoon, und die jüdische Idealistin waren eine
ungewöhnliche Kombi. In Europa wollte von dem Schiff niemand etwas wissen.
Die Mission endete im Desaster.
Nach 1918 wurde Rosika Schwimmer staatenlos – ausgestoßen von dem
rechtsextremen Horthy-Regime in Ungarn. In einem Brief schrieb sie aus Wien
an eine Freundin: „Wir sind nun ganz real die ewigen Juden, die heimatlos
von einem Ort zum anderen wandern.“ Sie ging in die USA.
Ihr Versuch, US-Bürgerin zu werden, scheiterte im Jahr 1926, weil sie das
Bekenntnis verweigerte, ihre neue Heimat mit Waffen zu verteidigen. Sie sei
eben Weltbürgerin. Das war prinzipienfest und unpragmatisch. Dass eine
fünfzigjährige Frau die USA mit Waffen hätte verteidigen müssen, war noch
unwahrscheinlicher als ein Erfolg der Friedensmission 1915.
## Lichtseite der Globalisierung
Schwimmer ist eine heimliche Heldin in Tara Zahras „Gegen die Welt“. Sie
verkörpert den schwungvollen, weltoffenen Internationalismus, die
Lichtseite der Globalisierung im frühen 20. Jahrhundert und gleichsam die
Opfer der antiglobalistischen Ausschlussprozesse. Anfang der 1930er Jahre
schien die Idee einer rechtlich geregelten friedlichen Weltordnung am Ende
zu sein.
Die [1][US-Journalistin Dorothy Thompson schrieb 1931 aus Berlin]: „Schaut
man auf Europa, muss man zugeben, dass die Welt sich nach zwölf Jahren
Völkerbund, dem Internationalen Gerichtshof, multilateralen Verträgen und
Abrüstungskonferenzen von der internationalen Auffassung abwendet, ihre
Sachen packt und nach Hause geht.“ Das klingt angesichts von Trump und AfD,
Le Pen und Modi alarmierend vertraut.
Zahra entfaltet ein facettenreiches, globales Zeitbild. Die
Auseinandersetzungen waren komplex. Die Trennlinie verlief zwischen
Universalismus und Partikularismus, aggressiver wirtschaftlicher
Globalisierung und ebenso aggressiver Abschottung. Die Fronten waren zu
verschlungen, um in griffige Formeln wie „fortschrittliche Globalisierung
versus reaktionäre Abschottung“ zu passen.
Oft überkreuzten sich Öffnungen und Schließungen. Die USA stiegen nach dem
Kriegseintritt 1917 zur globalen Macht auf. Gleichzeitig schotteten sie
sich in genau diesem Moment ab und stoppten rabiat den Zustrom von
MigrantInnen aus Europa.
## Nichtreaktionäre Abschottung
Umgekehrt musste wirtschaftliche Abschottung keineswegs zwingend reaktionär
sein. In Indien ließ Gandhi im Jahr 1921 Hüte, Mäntel, Jacken und Schirme
aus ausländischer Produktion verbrennen und erklärte dies zu einem Akt der
reinigenden Befreiung „von dem Emblem unserer Versklavung“. Anstatt
Produkte der britischen Kolonialmacht zu kaufen, sollten die InderInnen
ihre Kleidung selbst spinnen.
Diese kleinteilig hergestellten Stoffe, genannt Khadi, waren allerdings
teurer und kratziger als die britischen Importe. Gandhi erklärte die Klage
über Khadi zum Luxusproblem, Selbstversorgung zur Emanzipation.
Zahra zündet ein Feuerwerk von Geschichten, Biografien, Episoden. In
Siebenmeilenstiefeln rauscht die Autorin durch die Geschichte, springt von
Henry Fords Vision, Autofabriken mit Farmen, mithin Heimatverwurzelung mit
Industrie zu verbinden, zum Streit in der NS-Bewegung, ob wirtschaftliche
Autarkie nötig sei. Und von dort zu Bewegungen in Europa, die Alternativen
zu anonymen Industriestädten suchten und die von faschistischen
Siedlungsprojekten bis zu sozialreformerischen Gartenstädten reichten.
All das ist plastisch, journalistisch erzählt. Diese Eingängigkeit hat aber
einen Preis. [2][Vielleicht ist es angesichts disparaten Materials für
Globalgeschichte immer schwieriger, Synthesen zu formulieren], als für
Nationalgeschichte. Die zusammenfassende Deutung kommt hier jedenfalls
etwas kurz. So funkelnd sich „Gegen die Welt“ liest, mitunter rätselt man:
Was war noch mal die Frage?
## Entfesselter Markt und die Folgen
Zahra deutet mit einem Zitat von Karl Polanyi von 1944 zart an, dass der
Aufstieg des Faschismus keine Folge des Ersten Weltkriegs war, sondern eine
Reaktion auf den entfesselten globalen Markt. Kein Missverständnis: Es ist
einfältig, Geschichte als Lieferant brauchbarer Haltungen und Moral
misszuverstehen.
Doch die Frage, ob das Wechselspiel von ökonomischer Globalisierung und
„Lets take back control“-Revanchismus verständlicher wird, wenn wir in 100
Jahren zurückschauen, wäre naheliegend. Zahra lässt, vielleicht allzu
fasziniert von den dampfenden Geschichten, die sie zutage fördert,
analytische Vergleiche zu oft unbeachtet am Rand liegen.
16 Apr 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
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