# taz.de -- Herfried Münkler „Macht im Umbruch“: Wer kann die vakante Stel… | |
> Herfried Münkler analysiert in „Macht im Umbruch“ die geopolitische Lage. | |
> Es gilt die Kooperation von Paris, Berlin, London, Warschau zu | |
> organisieren. | |
Bild: Ukrainische Drohnenpiloten: Russlands Überfall auf die Ukraine hat die g… | |
Der Boden, auf dem die Bundesrepublik solide stand, wackelt. Der Westen | |
zerfällt. Im Osten formiert sich Russland zu einer aggressiven | |
neoimperialen Macht. All das ist der Vorschein einer neuen Weltordnung, die | |
rauer und machtgestützter, diffuser und regelloser sein wird als das, was | |
wir kannten. Die EU wird da eher aus Not zum neuen Flucht- und | |
Hoffnungspunkt erklärt. War nicht gerade noch allgemein abgenickter Common | |
Sense, dass von der politisch erstarrten EU, die auch noch massiv von | |
Rechtspopulisten unter Beschuss steht, nicht viel zu erwarten ist? | |
Angesichts dieser Mixtur aus Furcht und Ratlosigkeit kommt Herfried | |
Münklers Studie gerade recht. Selten hat ein Sachbuch so perfekt eine | |
Stimmungslage erfasst, gespiegelt, analysiert wie „Macht im Umbruch“. | |
Münkler beschreibt, geschult an Machiavelli und unbeeindruckt von Moden, | |
seit Jahrzehnten politische Prozesse als Machtkampf. Der Schlüsselbegriff, | |
der hier die Dynamik der neuen Weltordnung erfasst, ist Geopolitik. Es | |
zeichnen sich fünf konkurrierende Machtblöcke mit regionalen | |
Einflusszonen ab: die USA, China, Russland, Indien und Europa. | |
## Analyse der Machtkonstellationen | |
Geopolitik wendet militärische Begriffe wie „Flügel“ und „Mitte“ an, … | |
Machtkonstellationen zu analysieren. Nach 1945 galt sie in der | |
Bundesrepublik als ideologischer Begleitschutz des NS-Krieges und moralisch | |
kontaminiert. Geopolitik passte nicht in das pazifistische Selbstbild der | |
Republik – und war auch überflüssig. | |
Die geopolitisch prekäre Mittellage Deutschlands war bis 1990 im | |
Ost-West-Konflikt kaltgestellt. Somit gab sich die bundesdeutsche | |
Kompromissdemokratie der Illusion „einer generellen Verfriedlichung der | |
Politik“ hin, in der es „keine Feinde, sondern nur noch wirtschaftliche | |
Konkurrenten“ gibt, schreibt Münkler. Aus diesem Traum haben uns Trump und | |
Putin endgültig geweckt. In der künftigen Welt wird Moral klein- und Macht | |
großgeschrieben. | |
Die EU muss, folgt man Münkler, von einer föderalen Konsens- zu einer | |
Entscheidungsmaschine werden. Mehr Macht im Zentrum, weniger | |
Vetomöglichkeiten für die Ränder. „Den Erfordernissen eines Akteurs mit | |
Anspruch auf weltpolitische Relevanz genügt das Verfahren der | |
verschachtelten Kompromisse nicht.“ | |
## „Führung von hinten“ | |
Die „Führung von hinten“, auf die sich vor allem Deutschland versteht, muss | |
in einer handlungsfähigen EU durch Führung von vorne ergänzt werden. Diesen | |
Job kann, Münkler zufolge, nur das große, wirtschaftlich starke und | |
geopolitisch durch die Mittellage prädestinierte Deutschland übernehmen. | |
Führung heißt dabei gerade nicht, nationale Interesse durchzuboxen, sondern | |
den EU-Laden als Ganzes zusammenzuhalten. Dieser Führungsbegriff ist keine | |
moralische Selbstbegrenzung, sondern funktional, um imperienartige Gebilde | |
ohne starke Zentrale wie die Europäische Union zu stabilisieren. | |
Militärisch gilt es angesichts des möglichen Ausstiegs der USA aus der Nato | |
eine Kooperation von Paris, Berlin, London, Warschau zu organisieren. | |
Scharfsinnig ist Münklers Hinweis, [1][dass es mit Geld für Militär nicht | |
getan ist.] Mit den USA verschwindet nicht nur der atomare Schutzschirm – | |
es kehrt auch die kniffelige Machtfrage zurück, wie die Hierarchie in einer | |
Post-USA-Nato aussehen kann. | |
## Schreckensvorstellungen am Horizont | |
Wer kann die vakante Stelle des verlassenen Machtzentrums ausfüllen? | |
Hellsichtig ist auch der knappe Hinweis, was drohen kann, wenn die Reform | |
Europas misslingt. Das Modell, dass die EU von Krise zu Krise stärker wird, | |
gilt nicht mehr. Am Horizont taucht die Schreckensvorstellung auf, dass | |
angesichts des grassierenden Neonationalismus vergessene, vorübergehend | |
stillgelegte ethnische Konflikte von außen angefacht werden und wieder | |
auflodern können. | |
Die von der EU einst ratlos beobachteten postjugoslawischen Kriege haben | |
gezeigt, wie abrupt solche Verläufe sind. Viktor Orbáns Anlehnung an Putin | |
könnte verbunden mit möglichen Revolten ungarischer Minderheiten in | |
Rumänien, Serbien und der Slowakei ein fatales Szenario ergeben. | |
So luzide sich vieles in Münklers Analyse liest – es gibt blinde Flecken | |
und Kurzschlüsse. Ausgeblendet wird die Frage, ob die Akkumulation von | |
Kompetenzen im Zentrum – schnelle Entscheidungen sind Macht – den | |
rechtsnationalen Widerstand gegen die EU nicht beflügeln. Münkler zieht es | |
vor, von Deutschland „entschiedenes Auftreten“ zu verlangen und „Verstö�… | |
gegen die Einhaltung der Verschuldungsgrenzen“ nicht zu dulden. Mag sein, | |
dass die politische Klasse der Bundesrepublik robustere Machtausübung üben | |
sollte – aber nicht so. | |
## Blinde Flecken und Kurzschlüsse | |
EZB-Chef Mario Draghi musste den Euro retten, weil Deutschland lieber den | |
Sparkommissar spielte, als mit gemeinsamen Bonds den Euro zu schützen. Und | |
jetzt soll ein noch mächtigeres Deutschland Südeuropa zum Sparen | |
verdonnern? Das dürfte das erstrebenswerte Ziel einer handlungsfähigeren EU | |
nicht befördern, sondern in die Luft jagen. | |
Das deutsche Verhalten in der Schuldenkrise war ja ein Gegenbeispiel zu | |
Münklers Begriff kluger Führung einer halbhegemonialen Macht. Damals | |
stellte Deutschland das nationale Interesse über das der EU, für deren | |
Zusammenhalt es als „primus inter pares“ zu sorgen hatte. | |
Verwunderlich ist, dass der Globale Süden in Münklers Analyse keine Rolle | |
spielt. Denn in der neuen Weltordnung muss sich Europa mit wechselnden | |
Partnern verbünden. Olaf Scholz hat dafür mit der anfänglichen | |
Ukraine-Diplomatie in Richtung Indien, Südafrika und Indonesien eine Spur | |
gelegt. Doch „Macht im Umbruch“ ist auf USA, Russland, China, Europa | |
fokussiert – [2][und damit, was globale Machtverhältnisse angeht, nicht | |
ganz up to date]. | |
## Kritik an „Macht im Umbruch“ | |
Die wesentliche Kritik an Münklers Buch betrifft die Engführung von Macht | |
und Geopolitik. Es ist zweifelhaft, ob der Raumbegriff des 19. Jahrhunderts | |
noch taugt, um die neuen Machtfiguren zu erfassen. Kann man im 21. | |
Jahrhundert, in dem Satelliten, digitale Ströme und KI regieren, noch mit | |
Clausewitz und der See- und Landmacht-Unterscheidung operieren? Geopolitik | |
ist ein nützlicher, intellektuell eher übersichtlicher Werkzeugkasten, aber | |
nicht der Universalschlüssel, mit dem sich eine abrupt rätselhaft gewordene | |
Welt entziffern lässt. | |
Am Ende dieser kühlen Konstellationen betrachtenden Analyse taucht wie ein | |
Komet aus dem Nichts ein leuchtender Begriff auf, der die Widersprüche | |
Europas heilen soll: „Die große Erzählung“. Das ist erstaunlich. Die | |
pragmatischen Demokratien haben die historischen großen Erzählungen unter | |
Ideologieverdacht gestellt. | |
Woher diese große, Sinn stiftende Erzählung kommen soll, bleibt in diesem | |
sonst klar argumentierenden Text schleierhaft. Macht alleine jedenfalls | |
gebiert keine Erzählung. Und Politik ist eben doch mehr als die Sprache der | |
Macht. | |
Auch ob Münklers immer wiederkehrender Vergleich von Putin mit Hitler | |
erkenntnisfördernd ist, kann man bezweifeln. Der russische Versuch, mit | |
Gewalt einen „cordon sanitaire“ in Osteuropa zu rekonstruieren, ist äußer… | |
bedrohlich und brutal. Aber er bewegt sich, anders als der Griff des | |
NS-Systems nach der Weltherrschaft, in den Bahnen imperialer Geopolitik. | |
## Keine selbstkritische Einordnung seiner Fehler | |
Der nüchterne, moralferne Blick schützt keineswegs vor Fehlurteilen. Beim | |
Ukrainekrieg 2014 lag Münkler so falsch wie viele Analytiker in der | |
Bundesrepublik und hielt die Existenz einer multiethnischen Ukraine für | |
unhaltbar. Darauf hat der Historiker Bert Hoppe in der FAZ hingewiesen. | |
Eine selbstkritische Einordnung dieser Irrtümer fehlt. Das ist schade. | |
Selbstkritik ist für Politiker karriereschädlicher Luxus, für | |
Intellektuelle nicht. Sie können mit Selbstreflexion ihre Glaubwürdigkeit | |
vermehren. | |
Aber noch wo Münkler zu kurz greift, ist er anregend, kreativ, | |
herausfordernd. „Macht im Umbruch“ markiert den Punkt, von dem aus | |
Weiterdenken möglich, an dem Widerrede nötig ist. | |
6 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Friedensforscherin-ueber-Investitionen/!6068227 | |
[2] /Wo-USA-Russland-und-Iran-sich-treffen/!6076895 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
## TAGS | |
wochentaz | |
Politisches Buch | |
Herfried Münkler | |
Geopolitik | |
Sachbuch | |
Machtkampf | |
Sicherheitspolitik | |
Europäische Union | |
USA | |
Bundesrepublik Deutschland | |
Nationalismus | |
Nato | |
Aufrüstung | |
Politisches Buch | |
Kolumne Feed Interrupted | |
Globalisierung | |
Buch | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Essay über europäische Mythen: Die Macht des Ungefähren | |
Tomasz Różyckis „Feuerprobe“ ist ein klagender, aber nie anklagender Essay | |
über das, was Europa hätte sein können, aber nie geworden ist. | |
Visuelle Gewalt der Rechten: Zynismus und lustvolle Unmoral | |
Zynismus ist Teil der Provokation der Rechten in den sozialen Medien. Das | |
Video zu Migration der US-Ministerin für Innere Sicherheit zeigt das | |
unverhohlen. | |
Buch über die Zwischenkriegszeit: Verschlungene Fronten | |
Die US-Historikerin Tara Zahra fördert Schillerndes über Globalisierung und | |
rechte Antiglobalisierungsbewegungen zwischen den Weltkriegen zutage. | |
„Wendepunkte“ von Ulrich Menzel: Krise, Einschnitt und das Danach | |
Steht die Welt am Übergang zu einem autoritären Jahrhundert? Eine Analyse | |
der Wendepunkte einer Welt, die aus den Fugen gerät. | |
Scheitern des Westens in Afghanistan: Das Ende des Werteexports | |
Der Abzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan stellt in jederlei | |
Hinsicht eine Zäsur dar. Die Welt von morgen wird anders geordnet sein. |