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# taz.de -- Essay über europäische Mythen: Die Macht des Ungefähren
> Tomasz Różyckis „Feuerprobe“ ist ein klagender, aber nie anklagender
> Essay über das, was Europa hätte sein können, aber nie geworden ist.
Bild: Da war die Welt noch in Ordnung: Europa auf dem Stier, Anfang des 5.Jh. v…
Was ist Europa? Dieser Frage geht Tomasz Różycki in seinem Essayband
„Feuerprobe“ nach, und folgt man ihm, dann ist Europa vor allem ein Mythos.
Allerdings, und das macht die Sache interessant, glaubt Tomasz Różycki an
Mythen, an die Macht des Ungefähren und an die Unzuverlässigkeit der
Literatur, gerade der Dichtung. Vom polnischen Opole, seiner Heimat, aus
macht er sich auf, dieses Europa zu entblättern, von dem niemand punktgenau
sagen kann, wo es beginnt und wo es endet.
Bei Różycki hat Europa entsprechend keine politischen oder geografischen
Dimensionen, es hat nur [1][ungefähre Grenzen]. Diese Grenzen verwischen
von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, nach oben aber ist diese
Grenze definiert: Sie reicht bis zum Mond: Für Różycki ist dieser der
Sehnsuchtsort, den die Menschen seit der Antike zu erreichen versuchten,
sei es in Versen, in Romanen oder mit dem Teleskop.
Różyckis Erkundung oder vielmehr poetisch-philosophische Umkreisung Europas
hat nicht den Anspruch, eine Vision aufzuzeigen; es ist ein Buch der Klage,
ohne Anklage zu sein. Minutiös erzählt „Feuerprobe“ von all den
Manuskripten, die von Autor*innen oder in Kriegen verbrannt worden sind,
und erzählt dadurch auch davon, [2][was Europa hätte sein können]. Selbst
wenn das Buch von veröffentlichen Texten erzählt, dann in erster Linie von
misslungenen Versuchen großer Dichter: Fernando Pessoas staubtrockener
Stadtführer für ein modernes Lissabon, Nikolai Gogols Versuch des zweiten
Bands der „Toten Seelen“.
## Der Papst und die Pest
Różycki ist ein unzuverlässiger Chronist, immer wieder lässt er seine
Leser*innen auch auf moderne Mythen hereinfallen. Papst Gregor IV. zum
Beispiel macht er mitverantwortlich für die Verbreitung der Pest im
katholischen Europa, weil er – der für die Einsetzung der Inquisition
tatsächlich maßgeblich verantwortlich war – in einer Bulle schwarze Katzen
als Verkörperung des Teufels bezeichnete; was der Legende nach zu einer
Massentötung von Katzen in Europa führte, weswegen sich die Ratten
ungehindert ausbreiten konnten, und mit den Ratten und ihrem Ungeziefer die
Pest. Es wäre eine schöne Moral: Durch den rücksichtslosen Kampf gegen das
Diabolische kommen Tod und Vernichtung zu den Selbstgerechten zurück. Sie
stimmt aber historisch nicht; oder nur insofern, als dass Tomasz Różycki
durch einen neuen, eigenen Mythos erzählt, woran es zu glauben lohnen
könnte.
Es ist nicht einfach, diesen Text einzuordnen: Die 130 Fragmente,
Beobachtungen und Ideen, die der Autor versammelt hat, sind eher ein
gedruckter Zettelkasten als ein einheitlicher Text. Genau das macht die
Lektüre aber auch so reizvoll: In den ungefähren Sphären, in denen sich
Różycki bewegt, scheint ein historischer Kulturraum Europa als Idee auf,
die aber keine politische ist, sondern eine des Gefühls. Am ehesten
charakterisiert vielleicht die Bezeichnung des lyrischen Essays dieses
Buch, das große Thesen und Würfe scheut und sich fragend und zweifelnd dem
Gegenstand nähert, den zu umschreiben es versucht.
Es ist eine traurige Pointe des Textes, dass nach seiner
Erstveröffentlichung 2020 [3][Putin die Ukraine überfiel] und jenes Europa,
das Tomasz Różycki beschreibt, jetzt einer tatsächlichen Feuerprobe
unterliegt. Er hat – ohne es unbedingt zu wollen – auch einen Text darüber
geschrieben: eine Mahnung daran, was wir und künftige Generationen
verlieren, wenn das Feuer sich einsengt.
16 May 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Frédéric Valin
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