# taz.de -- Buch über Mauersegler: Immer in der Luft | |
> „Der Zug der Mauersegler“ berichtet über den Flug von Zugvögeln über | |
> Grenzen, an denen Menschen scheitern. Es ist Naturewriting aus linker | |
> Perspektive. | |
Bild: Auf uralten, gefährlichen Wegen fliegt der Mauersegler Richtung Süden | |
Wer Flügel hat und im Wind zu leben versteht, für den ist die Welt gar | |
nicht so groß. Mauersegler können in einer Regenrinne in einem Haus in der | |
Bremer Helgolandstraße ein Nest bauen und dort in den Sommermonaten ein | |
oder mehrere Küken aufziehen. Nimmt Anfang August die Fülle an Blüten und | |
Insekten in der Norddeutschen Tiefebene langsam ab, dann schwingen sie sich | |
in den Himmel, richten sich am Magnetfeld der Erde aus und segeln Richtung | |
Süden. Über Land, Meer, Wüsten, bis nach Liberia vielleicht, oder Tansania. | |
[1][Neun Monate lang fliegen, schlafen, jagen, fressen, ohne zu landen, | |
immer in der Luft.] Und dann: Rückkehr. | |
Imke Müller-Hellmann kann Mauersegler aus dem Fenster ihrer Bremer Wohnung | |
beobachten. Sie lösen Fernweh bei ihr aus, darüber hat sie nun ein Buch | |
geschrieben. „Oft habe ich mich gefragt, wo die Mauersegler meiner Straße | |
hinfliegen“, schreibt sie, „wenn sie Anfang August, von einem Tag auf den | |
anderen, nicht mehr zu sehen und zu hören sind. Wo sie jetzt gerade segeln | |
und über welchem Ort sie wohl kreisen, habe ich an kalten Wintertagen | |
überlegt, welches Stück Regenwald sie das ihre nennen, über das sie in | |
diesem Moment hinwegpesen auf der Jagd nach unzähligen Regenwaldinsekten, | |
während der hiergebliebene Spatz keine müde Mücke mehr fängt.“ | |
Also ist Müller-Hellmann ihnen für ihr Buch „Der Zug der Mauersegler“ | |
nachgegangen, nachgeflogen, gedanklich und buchstäblich. Sie ist hoch | |
hinaufgeklettert unter das Kirchdach in Gehrde, einer kleinen Gemeinde bei | |
Osnabrück. Dort hüten, beobachten, beringen und besendern seit Jahren | |
Enthusiast:innen eine Kolonie der kleinen Segler:innen. Ein Schatz für | |
Naturfreund:innen, aber auch für Wissenschaftler:innen. | |
„,Woher wissen Sie, wann die Segler kommen?', frage ich, während ich mich | |
vom Boden hochrapple und den Staub von den Knien klopfe. Der Doktorand aus | |
Siegen ruft an, sagt sie, wenn der erste Segler in der Talsperre ist, sind | |
sie ein paar Tage später hier.“ | |
Die Autorin besucht Landschaften, Orte, Vögel und Menschen, nicht nur | |
Ornithologen. Wer in der deutschen Kulturlandschaft über Tiere schreibt, | |
berichtet unweigerlich über diejenigen, die sie beobachten, erforschen, | |
ihren Lebensraum zerstören, erhalten oder gar erst schaffen. So weit, so | |
konventionell, das Verhältnis von Mensch und Natur durchzieht das Genre | |
Naturewriting, in dem die Neuerscheinungen in dem Maße zunehmen wie die | |
Zahl der Tiere und Pflanzen abnimmt. Speziell dem Mauersegler haben sich in | |
den vergangenen Jahren etliche Autor:innen gewidmet. | |
Aber Müller-Hellmann geht einen Schritt weiter und das Thema ganzheitlich | |
an. Sie fragt: Wenn ich, Mensch, davon schreiben will, wie ich Vögel | |
beobachte, oder wie andere Vögel beobachten – dann muss ich das Fernglas | |
erst mal auf mich selbst richten. „Mein Körper ist nicht jung und nicht | |
alt. Nicht männlich, nicht inter, nicht trans, nicht hetero und nicht | |
schwanger. Nicht Schwarz (zur Schreibweise von „Schwarz“ und „weiß“ si… | |
Anmerkungen) und nicht of Color. … Er weicht nicht stark von gängigen | |
Normen ab, und alles, was ich erlebe, würde ich anders erleben – und ich | |
würde Anderes erleben – wenn er eine der genannten Eigenschaften besäße“, | |
beginnt sie ihr Buch. Um dann immer wieder nachzuforschen, warum sie etwas | |
wahrnimmt oder weiß, interessiert oder aufgibt, wer oder was sie | |
beeinflusst, anregt oder irritiert. | |
Die Autorin beschreibt, wie sie in ihrem WG-Zimmer in Bremen an ihrem | |
Schreibtisch sitzt und den Weg der Zugvögel von Norddeutschland nach Afrika | |
studiert. [2][Und wie ihre Mitbewohnerin eine Schicht der NGO Alarm-Phone | |
bestreitet], um Menschen zu helfen, die auf umgekehrter Wegstrecke | |
unterwegs sind. Wie diese am Telefon sitzt und Anrufe entgegennimmt von | |
geflüchteten Menschen in Seenot, die diese Nummer auf Zwischenstationen | |
irgendwo auf dem afrikanischen Kontinent erhalten haben. | |
## Schlauchboote und Flugbahnen | |
„Ich mache mir einen Kaffee in der Küche, meine Mitbewohnerin kommt aus dem | |
Arbeitszimmer. Sie sagt: Sie gehen nicht ans Telefon. Ich frage, wer? Die | |
Küstenwachen, Libyen, Malta, Italien und das schon seit Stunden. Da sind | |
einhundert Leute in einem Schlauchboot. Am Abend bricht der Kontakt zum | |
Boot ab. Meine Mitbewohnerin legt sich ins Bett und steht zwei Tage lang | |
nicht wieder auf.“ | |
Präzise umreißt Müller-Hellmann die Ungleichzeitigkeiten ihres | |
Berichtsgebiets: Da sind die Zugvögel, die sich frei zwischen Afrika und | |
Europa hin und her bewegen, auf uralten, aber auch gefährlichen Bahnen – | |
geschätzt die Hälfte aller Vögel, die sich im Spätsommer und im Frühling | |
auf die Reise machen, kommt nicht an. Da sind die Flüchtenden, die auf | |
ebenfalls gefährlichen Wegen von Afrika nach Europa unterwegs sind und an | |
von Menschen gezogenen Grenzen und Zurückweisung scheitern. Und da sind | |
Tourist:innen, die die Strecke bequem reisend überwinden, so wie die | |
Autorin das vorhat – bis die Coronapandemie ausbricht, und sich für fast | |
alle Menschen fast alle Grenzen erst einmal schließen. | |
Die Mauersegler reisen weiter. Mit großem Respekt tritt die Autorin ihnen | |
gegenüber, und einmal, als sie ganz allein mit ihnen auf dem Kirchdach ist, | |
kommt sie ihnen und damit wir ihr ganz nah: „Liebe Jungvögel alle hier, die | |
ihr in den Kästen hockt und wispert und wartet, …, ihr wisst ja noch gar | |
nicht, was alles Großartiges auf euch zukommt. … Erinnert euch an den | |
Geruch meiner Hände und an meine geflüsterten Worte, als ich euch | |
vorsichtig aus dem Kasten gehobenen habe, um euch einen Ring umzutun, der | |
uns anzeigt, wo ihr zu Hause seid oder zumindest geboren seid, denn ihr | |
braucht diesen Ring nicht, weil ihr zu Hause seid in der Luft.“ Da zeigt | |
sie uns ihre Ehrfurcht vor diesem nahen und doch so fremden Leben vor ihrem | |
Fenster. Es ist eben faszinierend, Vögel zu beobachten, und nichts daran | |
ist harmlos. | |
12 May 2025 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Heike Holdinghausen | |
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