# taz.de -- Mit komplexen Identitäten umgehen: Von Vögeln lernen | |
> In ihrer Jugend prallten Realitäten aufeinander. Suchend schreibt | |
> Elisabeth Wellershaus nun über Identitäten in „Wo die Fremde beginnt“. | |
Bild: Elisabeth Wellershaus an der Berliner Panke, wo sie öfters spaziert | |
„Zunächst waren es Vögel, die ich während der Pandemie neu entdeckte. | |
Nebelkrähen, die sich mit Elstern anlegten, weil sie um Brutreviere | |
kämpften. Mauersegler, die aus dem Süden zurückkamen und sich in den Ritzen | |
des Hauses gegenüber einnisteten. Winzige Bewegungen, die vor meinem | |
Fenster stattfanden, die vorbeizogen und flüchtig blieben“, schreibt | |
Elisabeth Wellershaus. | |
Diese „winzigen Bewegungen“ sind Begegnungen von Lebewesen, die ihr | |
Miteinanderleben miteinander aushandeln müssen. Immer wieder von Neuem. Das | |
gilt für Vögel wie auch für Menschen, besonders im urbanen Raum, wo viel | |
Leben auf wenig Platz trifft. | |
Dieses Aushandeln, das Wellershaus zu Pandemiebeginn von ihrem Fenster aus | |
in Berlin-Pankow beobachtete, legte den Grundstein für ihr erstes Buch. In | |
ihm begibt sich die Autorin auf die Suche nach dem, was uns alle ausmacht | |
und was wir wohl ein Leben lang zu ergründen versuchen: die eigene | |
Identität. | |
Dass diese nicht so einfach zu definieren ist, lässt bereits der Untertitel | |
erahnen: „Über Identität in der fragilen Gegenwart“. Wie fragil diese | |
Gegenwart aktuell ist, lässt sich nicht bloß an medialen Debatten ablesen. | |
Auch in den Alltagsbegegnungen erleben viele, [1][wie fragil, ja gar | |
zerbrechlich die Gesellschaft] mit ihren ganzen individuellen Identitäten | |
ist. | |
## Wo beginnt die Fremde? | |
Was gerade noch als gewiss galt, wirkt nun verschoben. Vieles lässt sich | |
vielleicht als Lernprozess verbuchen, manches bleibt uns aber schlicht | |
fremd. Hier setzt Wellershaus an, versucht das Konzept Fremdheit anhand der | |
eigenen Geschichte, der eigenen, vermeintlich starren Identität zu | |
begreifen. Um, wie es auch der Buchtitel bezeugt, herauszufinden, „Wo die | |
Fremde beginnt“ und wie man ihr begegnen kann. | |
Knapp 150 Seiten nimmt sich Wellershaus für dieses für sie nicht ganz neue | |
Thema. Bereits in ihrer Arbeit als Journalistin und Redakteurin beim Zeit | |
Online-Newsletter „10nach8“ sowie dem mehrsprachigen Kunstmagazin | |
Contemporary And beschäftigte sie sich mit Fremdheit, meist als etwas ihr | |
von außen Zugeschriebenem. | |
1974 in Hamburg geboren, wuchs Wellershaus im bürgerlichen Stadtteil | |
Volksdorf mit ihrer Mutter und bei den Großeltern lebend auf. Unterbrochen | |
wird der Hamburger Alltag von sommerlichen Besuchen an der spanischen Costa | |
del Sol, wo der aus Äquatorialguinea geflohene Vater bis heute lebt. | |
Eindrücklich beschreibt Wellershaus, wie sie zwischen diesen beiden | |
Lebensrealitäten balanciert: „Mein schwereloses Mittelmeerleben und die | |
bodenständige deutsche Vorstadt: Immer wieder krachten sie mit Karacho | |
ineinander. Weil sie das Fremde aneinander witterten und kaum aushielten.“ | |
## Anpassungsversuche wegen Fremdzuschreibung | |
Ihr spanisches Leben riecht nach einem „Hauch aus Orangen, Churros und | |
starken Putzmitteln“. In ihm ist Platz für den Männer küssenden, besten | |
Freund ihres Vaters und die für kurze Zeit als normal geltende Ferienliebe | |
zwischen den Eltern. | |
In Volksdorf wiederum gelten sie und die Mutter als unkonventionell. | |
Abgefedert wird das vermeintliche Anderssein dort von den Großeltern, denn | |
„mit den beiden Alteingesessenen hatten wir das Ideal der heilen | |
Kleinfamilie auf verschobene Weise erfüllt“. Nach deren Tod beginnen | |
Wellershaus’ Anpassungsversuche, um dort, wo ihr andere stets Fremdsein | |
zuschreiben, nicht aufzufallen. | |
„Verbindungen und Knoten entwirren, die meinen eigenen Alltag ausmachten“, | |
wollte sie, so steht es im Buch. Ähnlich formuliert sie es bei einem | |
gemeinsamen Spaziergang entlang der Panke, die durch die Berliner | |
Stadtteile Pankow und Wedding fließt. Viel ist sie hier spazieren gegangen, | |
als es wenig anderes gab, was man in der Stadt machen konnte. | |
Von den „Grundpfeilern aus Wohlstand, Sicherheit und Homogenität“, die ihr | |
aktuelles Pankower Primärzuhause in einer Baugruppe tragen, über die | |
physisch abgerissene, durch Gentrifizierung aber klar markierte Grenze bis | |
hinein in den Wedding, wo „fremde Armut, fremde Kulturen, fremde Sprachen | |
und die Fremdheit fehlender Möglichkeiten existieren“, schreibt sie. | |
Entwirren mit dem Ziel, neue Gewissheiten bezüglich Gemeinschaft und | |
Kollektivität zu gewinnen, sagt sie, sei der Plan gewesen. | |
Auf dem Sandweg vor uns landen zwei Rotkehlchen. Winzig wirken sie zwischen | |
all den anderen Vögeln, die ihren temporären Lebensraum in der Grünanlage | |
errichtet haben: Riesige, gefährlich wirkende Krähen, gesellschaftlich | |
geächtete Tauben und freche Spatzen fliegen umher, Stare und auch die ein | |
oder andere Amsel sind zu sehen. | |
## Sehnsucht nach Verbundenheit | |
Beim Thema Vögel wirkt Wellershaus enthusiastisch. Das Beobachten der | |
geflügelten Stadtbewohner ist inzwischen eine Leidenschaft innerhalb ihrer | |
Familie. Begeistert erzählt sie von Dara McAnulty und seinem „Tagebuch | |
eines jungen Naturforschers“. Der 19-jährige Umweltaktivist aus Irland, | |
dessen Spitzname lon dubh, zu Deutsch Amsel, ist, gewährt in seinem Buch | |
einen ganz eigenen Blick auf die Welt, ist McAnulty doch Autist. | |
Auch er musste sich in seinem Leben oft neu verorten, familiärer Umzüge, | |
aber auch Mobbingerfahrungen wegen. „Manche Menschen meinen, dass Wurzeln | |
durch Steine und Mörtel entstehen, aber unsere wachsen wie unterirdische | |
Pilzgeflechte in alle Richtungen, verbinden sich zu einem Grundstock | |
gemeinsam gelebten Lebens, sodass wir, egal wohin wir gehen, immer | |
verwurzelt bleiben“, schreibt er im Vorwort. | |
Dass Wellershaus McAnultys Tagebuch gelesen hat, merkt man ihrem Stil an. | |
Ähnlich poetisch beschreibt sie, was sie sieht, wem sie begegnet. Auch ihr | |
Zuhause verortet sie wie McAnulty nicht an einem einzigen Ort, an dem es | |
stoisch festzuhalten gilt. „Hier wie dort“ kann es liegen. | |
Was in ihren Worten aber immer mitschwingt, ist der Wunsch nach | |
Verbundenheit – eine allgemeingültige Sehnsucht, die nicht selten in | |
[2][identitätspolitischen Debatten häufig kritisierten] | |
Kollektivzugehörigkeiten mündet. Wellershaus weiß um die Problematik hinter | |
identitären Zuschreibungen, beobachtet, wie die damit einhergehende | |
Abgrenzung uns isoliert. | |
## Der Mensch als multikollektives Wesen | |
Als Menschen sind wir eben doch anders als Pilzgewächse, denen ihre | |
unterirdischen, oberflächlich nicht sichtbaren Wurzeln reichen, um | |
verbunden zu sein. Wir aber müssen sehen und fühlen, wenn nicht auch mit | |
anderen Sinnen wahrnehmen, damit wir uns verbunden fühlen können. Die | |
„Gewissheit, Teil eines diasporischen, globalen Ganzen zu sein“, entglitt | |
Wellershaus während der Pandemie mit ihren engmaschigen Lockdowns. Was sie | |
in ihrem Buch versucht, ist, zusammenzubringen, was aktuell getrennt wirkt. | |
Ihrem Aufwachsen als Schwarzes Kind in der Hamburger Vorstadt stellt | |
Wellershaus deshalb andere Lebensrealitäten gegenüber: die der in London | |
wohnhaften Cousine, mit der die Autorin die äquatorialguineische Familie | |
väterlicherseits sowie Erfahrungen afropäischen Lebens teilt; die von S., | |
der als syrischer Flüchtling in Brandenburg lebt und dort zwischen | |
Alteingesessenen und Neuzugezogenen vermittelt; die von Mutter und Tante, | |
deren Aufwachsen von einer Generation Kriegstraumatisierter geprägt wurde. | |
Es geht Wellershaus darum, aufzuzeigen, dass wir alle „multikollektive | |
Wesen mit einer Vielzahl persönlicher Zugehörigkeiten“ sind. Dass wir eben | |
auch in Fremdheit miteinander verbunden sein und die Erfahrungen anderer | |
uns „als Kompass zur Verortung dienen“ können. Wenn sie eines gelernt habe, | |
dann, dass wir die uns inhärenten Unterschiede auszuhalten lernen müssten, | |
„ohne die Abweichungen des anderen zum Vorwand für Abwertung zu nehmen“, | |
zitiert sie die Schriftstellerin Toni Morrison. | |
Wellershaus' Buch ist ein „Suchen und Vortasten“, ein Versuch, über die | |
eigenen Erfahrung zu sprechen und sie mit größeren gesellschaftspolitischen | |
Themen zu verknüpfen. Dass dies keine eindeutigen Ergebnisse liefert, keine | |
universale Lösung für die identitätspolitischen Debatten unserer Zeit | |
präsentiert, ist kein Manko. | |
Es zeigt vielmehr, [3][wie komplex unsere Identitäten] tatsächlich sind, | |
wie das Gefühl von Fremdheit uns alle ereilt, sobald wir Gewohntes | |
verlassen, und wie uns die Sehnsucht nach Zugehörigkeit prägt. Wenn es eine | |
Gewissheit gibt, dann vielleicht die, dass es kaum eine gibt, schreibt | |
Wellershaus. Ihre Fremde sei durchzogen von Grauzonen, „die sich der | |
Eindeutigkeit verweigern. Allein die Solidarität mit dem Unbekannten | |
scheint den genauen Weg zu kennen.“ Alles andere bleibt – die Vögel wissen | |
es – ein Aushandeln. | |
27 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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