| # taz.de -- Mithu Sanyal über Identität: „Literatur ist ein utopischer Ort�… | |
| > Mithu Sanyal über ihren ersten Roman „Identitti“, Diversität im | |
| > Literaturbetrieb und die Lust daran, Grenzen zu überschreiten. | |
| Bild: Wie können wir produktiv mit Wut und Schmerz umgehen? fragt Mithu Sanyal… | |
| Was wäre, wenn eine antirassistische PoC-Professorin namens Saraswati | |
| sich als weiße Person mit Narzissmus-Komplex entpuppen würde, die Sarah | |
| Vera heißt? Genau das passiert in „Identitti“, dem im Düsseldorfer | |
| Universitätsmilieu spielenden, soeben im Hanser-Verlag erschienenen | |
| [1][Debütroman] der [2][Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal] (432 Seiten, | |
| 22 Euro). Darin konfrontiert die Studentin Nivedita ihr einstiges Idol mit | |
| deren Lebenslüge. Unter Coronabedingungen finden Interviews derzeit gern | |
| via Zoomkonferenz statt. Zur Abwechslung sprachen Eva Tepest und Mithu | |
| Sanyal mal ganz klassisch am Telefon. | |
| taz.am wochenende: Mithu Sanyal, Sie verhandeln komplexe Fragen rund um | |
| [3][Identitätspolitik und Rassismus] und beziehen sich auf viele | |
| postkoloniale Autor*innen. Warum ist „Identitti“ ein Roman geworden und | |
| keine Essaysammlung? | |
| Mithu Sanyal: [4][Weil Identitätsfragen] nicht durch Fakten und Daten | |
| beantwortet werden, sondern durch Geschichten. Meine Hoffnung ist, dass du | |
| emotional durch die Zerrissenheit von Nivedita den Vorgängen in dem Buch | |
| folgen kannst, auch wenn du kein Postkolonialismusstudium hinter dir | |
| hast. Wir bringen alle wahnsinnig unterschiedliche Voraussetzungen mit, | |
| gehen aber in die Debatten über race und Rassismus so rein, als wüssten wir | |
| alle dasselbe. Das führt zu vielen Missverständnissen. Der Gedanke, ich | |
| könnte eine abschließende Bewertung schreiben, schien mir als Anmaßung. Ich | |
| hatte das Gefühl, all diese Fragen können nur in einem Roman und von vielen | |
| Stimmen gestellt werden. Außerdem wollte ich immer schon Romane schreiben. | |
| Dass ich das bisher nicht gemacht habe, liegt auch an Rassismus. Ich | |
| dachte, das wäre für Leute wie mich nicht möglich. | |
| Der Roman bewegt sich in einer bestimmten Szene aus Aktivist*innen und | |
| Journalist*innen, bemüht sich aber gleichzeitig, die behandelten | |
| Diskussionen möglichst zugänglich zu machen. Wen hatten Sie als Leser*in | |
| im Blick? | |
| Die Autorin Toni Morrison hat mal gesagt, sie schreibt für Schwarze | |
| Menschen. Weiße Menschen können ihre Bücher natürlich auch lesen, aber sie | |
| erklärt sich nicht gegenüber einer weißen Leser*innenschaft. Der | |
| emotionale Weg zu dem Buch muss gemacht werden. Das ist bei mir ähnlich, | |
| die Erfahrungen von mixed-race Menschen sind in meinem Roman die Norm. | |
| Leute abzuholen ist im Gegensatz dazu ein problematischer Allgemeinplatz | |
| geworden. | |
| Ich will aber auch niemanden emotional im Regen stehen lassen. Auch an Unis | |
| trauen sich manche nicht, bei bestimmten Themen mitzureden, weil sie die | |
| zehn Begriffe nicht kennen, die man angeblich kennen muss. Dabei lernen wir | |
| alle selber ständig neue Begriffe. Der Begriff People of Color ist zurzeit | |
| die beste Selbstbezeichnung, die wir haben. Ich bin mir aber ziemlich | |
| sicher, dass wir ihn in zehn Jahren nicht mehr benutzen werden. | |
| Die Nachricht, dass Saraswati, gefeierte Professorin für Postcolonial | |
| Studies in Düsseldorf mit vermeintlich indischem Background, weiß ist, | |
| steht gleich zu Beginn des Buchs. Im Rest des Romans bemühen sich dann die | |
| Menschen in ihrem Umfeld, allen voran ihre Studentin Nivedita, um einen | |
| Umgang mit dem Ereignis. Warum haben Sie sich für diesen Aufbau | |
| entschieden? | |
| Mir ging es immer eher um das „Warum?“ und das „Wie?“ als um die Tatsac… | |
| dass. Viele Bücher enden mit der Enthüllung, aber dann beginnt die | |
| Geschichte ja erst. Das sind die wichtigen Fragen für Nivedita: „Warum hast | |
| du das gemacht?“, „Welche Auswirkungen hat das für mich?“, aber auch: �… | |
| es Versöhnung geben?“ Formal orientiert sich mein Roman an klassischer | |
| angelsächsischer Literatur mit Plot und greifbaren Charakteren und | |
| Dialogen, auch wenn es experimentelle Teile darin gibt wie die Tweets, die | |
| mir von echten Journalist*innen und Aktivist*innen für den Roman | |
| geschenkt wurden. | |
| Sie beziehen sich auf US-amerikanische Fälle. Jessica Krug, eine weiße, | |
| jüdische Frau, die für ihre Professur an der George-Washington-University | |
| Blackness claimte, schrieb in ihrem Enthüllungspost: „Intention never | |
| matters more than impact“, also die Absicht ist nie wichtiger als die | |
| Wirkung. Auch Nivedita konzentriert sich auf die Auswirkungen von | |
| Saraswatis Handeln, sie fokussiert sich aber auf deren positiven Einfluss. | |
| Niveditas Konflikt ist, dass Saraswati und ihre Seminare so zentral und | |
| wichtig für ihr Leben waren und sie sich fragt, ob das nach der Enthüllung | |
| jetzt alles nichts mehr wert sein darf. Das hat ganz viel damit zu tun, | |
| dass es zu wenige Rollenvorbilder an deutschen Universitäten gibt. Wenn sie | |
| Saraswati nicht gehabt hätte zu diesem Zeitpunkt, hätte Nivedita | |
| wahrscheinlich einfach niemanden gehabt. Weil wir gerade erst anfangen, den | |
| eigenen Kolonialismus an Hochschulen zu unterrichten und antirassistisches | |
| Wissen zu vermitteln. | |
| Deshalb stellt Nivedita Saraswati zur Rede und ist wütend auf sie, und | |
| Saraswati geht einfach nicht weg. In Kontakt zu bleiben kann ein sehr | |
| heilender Prozess sein. Das ist die Eigenschaft an Saraswati, die ich | |
| ungebrochen positiv finde, auch wenn sie das nicht aus Altruismus macht, | |
| sondern aus Hybris, weil sie denkt: „Ich bin euer Messias.“ | |
| Andere Figuren in dem Roman, zum Beispiel Oluchi, eine weitere Studentin | |
| von Saraswati, fordern, sie zu canceln. Ist der Roman ein Plädoyer für die | |
| Auseinandersetzung und gegen die Cancel-Culture? | |
| Mir war es wichtig, dass es neben Nivedita, die verzeiht, auch Oluchi gibt, | |
| die nicht verzeiht. Und beides ist verständlich und motiviert. Ich bin | |
| gegen Canceln, aber ich bin auch dagegen, die Wut und den Schmerz zu | |
| ignorieren. Der Roman stellt ja auch die Frage: Wie können wir produktiv | |
| damit umgehen? Und selbst wenn Sarawati nicht gelogen hätte, könnte sie ja | |
| niemals alles abdecken, was Nivedita in ihr sucht. In einem | |
| Mentorin-Mentee-Verhältnis gibt es immer den Moment der Entzauberung, des | |
| Betrugs. | |
| Hätte Saraswati auch ein Mann sein können? | |
| Nein. Saraswati hätte nichtbinär sein, sie hätte aber kein Mann sein | |
| können. Nivedita hätte sich nicht so von einem Mann inspirieren lassen. Ihr | |
| geht es ganz viel um Identifikation, und weil ihr Vater Inder ist, sucht | |
| sie in Nivedita nach einer indischen Mutterfigur. | |
| Ich hatte mir „Mommy Issues“ notiert. | |
| Absolut! | |
| Ich finde es ziemlich erfrischend, dass es mal nicht um Daddy Issues geht. | |
| Tatsächlich sind es ja in der Regel die Professorinnen, die das Kleenex am | |
| Tisch stehen haben, weil die Studentinnen irgendwann zu ihnen kommen und | |
| weinen. Und das liegt nicht daran, dass die als Frauen so viel empathischer | |
| sind, sondern dass wir das so gelernt haben. | |
| Eine meiner Lieblingsszenen war die, in der Nivedita mit dem Vibrator von | |
| Saraswati masturbiert und dann darüber nachdenkt, ob das jetzt | |
| unkonsensuell war. Wie können wir damit umgehen, dass Abgrenzungen zum | |
| Beispiel von Identitäten politisch notwendig sind, und auf der anderen | |
| Seite anerkennen, dass es lustvoller Grenzüberschreitungen bedarf? Auch | |
| Saraswati entwickelt ihre „transracial“ Identität ja nicht nur aus reinem | |
| Kalkül, sondern auch aus einer emotionalen Notwendigkeit, sogar einer Lust | |
| heraus. | |
| Das freut mich total, weil mir klar war, ich will keinen Roman schreiben, | |
| wenn es darin keinen Orgasmus gibt. Grenzen sind tricky, es ist wichtig, | |
| sie zu respektieren, aber auch, sie zu erweitern. Auch Nivedita setzt sich | |
| mit race nicht auseinander, um Rassismus zu benennen, sondern auch, um sie | |
| zu genießen. Gerade weil ihr das in ihrem Leben verweigert wurde, will sie | |
| Teil einer Community geteilter, auch positiver Erfahrungen sein. Dabei ist | |
| sie immer hin und her gerissen und fragt sich: „Darf ich das wollen? Wie | |
| geht das, ohne in diese Ismen reinzufallen?“ | |
| In Bezug auf Identität stellt der Roman auch die Frage: Wie können wir aus | |
| starren Identitäten ausbrechen, ohne einfach von heute auf morgen einen | |
| Post-Race- oder Post-Gender-Zustand auszurufen? Wie sieht Ihre Utopie aus? | |
| Zu behaupten: „Ich sehe keine Hautfarben“, negiert die Tatsache, dass es | |
| Rassismus gibt. Das ist keine Utopie. Für mich ist eine positive Vision, | |
| dass wir umso selbstbestimmter mit Zeichen spielen können, je mehr Wissen | |
| wir über sie haben. Nivedita fühlt sich die ganze Zeit fremdbestimmt, weil | |
| ihr Leute sagen, was Indischsein bedeutet und ob sie eine „echte Inderin“ | |
| ist. Und dann geht sie in Saraswatis Seminar und beginnt diese | |
| Zuschreibungen zu unterlaufen. Das vertritt auch der Philosoph Kwame | |
| Anthony Appiah, wenn er von Identitäten als notwendigen Lügen schreibt. Wir | |
| brauchen sie demnach, um uns orientieren zu können, aber uns muss klar | |
| sein, dass sie a priori falsch sind. Wir müssen daher lebensbejahende und | |
| inklusive Identitäten herstellen und solche, bei denen es um Verbindung | |
| geht und nicht um Abgrenzung. | |
| Wie sieht das mit Identität im Literaturbetrieb aus? Im Kultur-Podcast | |
| „Lakonisch Elegant“ haben Sie neulich gesagt, weiße Menschen dürfen Büch… | |
| von PoCs rezensieren, sie müssten dabei aber ihre Position deutlich machen. | |
| Das ist verkürzt. Erst mal ist es total wichtig, dass es mehr Diversität in | |
| der Literaturkritik und unter Autor*innen gibt. Viele behaupten ja, PoCs | |
| würden neuerdings den Buchmarkt übernehmen, nur weil es überhaupt einmal | |
| mehr als eine*n gibt. Genauso wünschte ich mir, dass mehr Medien BIPoCs | |
| (Anm. d. Red.: „Black, Indigenous and People of Color“, Schwarze, indigene | |
| Menschen und People of Color) mit Rezensionen beauftragen. Aber das heißt | |
| nicht, dass Weiße keine Literatur von nichtweißen Autor*innen | |
| rezensieren sollen. Ich bespreche ja auch Bücher von weißen Männern, die | |
| über ihren Penis schreiben, und ich habe viel dabei gelernt. Zu fragen, wer | |
| etwas darf, ist die falsche Frage. Die Frage sollte vielmehr sein, welche | |
| Voraussetzungen sollte jemand mitbringen, um etwas gut zu machen. Mein | |
| wunderbarer Lektor beim Hanser-Verlag, Florian Kessler, ist ja auch ein | |
| weißer Mann, aber einer, der ganz viel emotionales und intellektuelles | |
| Wissen in diesen Diskursen hat. | |
| Im Nachwort beschreiben Sie, dass Ihnen schnell klar war, die Morde von | |
| Hanau in den Roman aufzunehmen. | |
| Ich finde es ein Unding, dass rassistischer Terror in der deutschsprachigen | |
| Literatur nahezu nicht vorkommt. Wir brauchen eine Erinnerungskultur, in | |
| der es nicht nur um die Statuen von Herren auf den Pferden geht. Nicht nur | |
| „die PoC-Community“, sondern wir alle müssen um die Opfer von Hanau trauern | |
| – und zwar auch in der deutschen Literatur, weil sie deutsche Opfer sind. | |
| Erinnerungskultur, Empathie – es klingt so, als ob Sie eine Facette von | |
| Utopie in der Literatur verorten würden. | |
| Absolut, das ist die Kernaufgabe der Literatur. Sie ist ein Trainingsplatz, | |
| auf dem wir uns in Figuren, die anders sind als wir, hineinversetzen. Der | |
| erste Roman mit einem mixed-race Ich-Erzähler war „Der Buddha aus der | |
| Vorstadt“ von Hanif Kureishi. Als ich den las, haben sich für mich die | |
| Erdplatten verschoben. Dass eine solche Stimme so selbstverständlich sagen | |
| kann: „Ich erzähle dir jetzt meine Geschichte, und du als Leser*in wirst | |
| mir folgen.“ Literatur ist ein utopischer Ort. | |
| 19 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eva Tepest | |
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