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# taz.de -- Mithu Sanyals neuer Roman: Welche Perspektive zählt?
> Mithu Sanyals vielarmiger Roman „Antichristie“ schließt die
> postkolonialen Debatten unserer Tage mit der Geschichte der Befreiung
> Indiens kurz.
Bild: Der Prinz von Wales in Indien, 1876
Gleich mit ihrem ersten Roman „Identitti“ gelang Mithu Sanyal ein Hit.
Zuvor hatte die Kulturwissenschaftlerin [1][mit Sachbüchern] („Vulva. Das
unsichtbare Geschlecht“ und „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“)
von sich reden gemacht. Inzwischen ist die 1971 in Düsseldorf geborene
Autorin aus dem hiesigen Kulturleben nicht wegzudenken. Sie sitzt in
wichtigen Jurys und Gremien (Bachmannpreis, Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels) und gehört zu den ersten Ansprechpartnerinnen in Fragen
postkolonialer Diskurse. Jetzt legt Mithu Sanyal mit „Antichristie“ ihren
zweiten Roman vor.
Konnte man [2][ihr Debüt „Identitti“] als Crashkurs in Sachen Rassismus und
Identitätspolitik lesen, gibt sie in „Antichristie“ Nachhilfe in Sachen
Widerstand. Der gewaltlose Widerstand, den viele mit der Person Mahatma
Gandhi verbinden, trifft im Roman auf den bewaffneten Widerstand des
indischen Hindu-Nationalisten Vinayak Damodar Savarkar, der hierzulande den
meisten unbekannt sein dürfte. Die Frage nach der Trennlinie zwischen
Freiheitskampf und Terrorismus ist indes eine altbekannte.
## Agatha-Christie, aber dekolonial
Der Roman führt ins Jahr 2022 in einen Writers Room nach London, wo eine
antirassistische Agatha-Christie-Neuverfilmung ansteht, der belgische
Kommissar Hercule Poirot soll durch einen Schwarzen ersetzt, das Ganze also
nach allen Regeln der Kunst dekolonisiert werden.
Mit dabei ist die Kölner Drehbuchautorin Durga Chatterjee, ein Double von
Mithu Sanyal und Hauptfigur des Romans, 50 Jahre alt, mit einem Schotten
verheiratet, Tochter eines Inders und einer Deutschen. Während sie in
London ist, stirbt Queen Elizabeth II., was weltweit Trauerrituale in Gang
setzt, natürlich gibt es auch weniger freundliche Stimmen, schließlich ist
sie auch die Queen of Kolonialismus gewesen.
## Das Geschlecht wechseln
Doch ehe sich Durga versieht, befindet sie sich schon in einem anderen
Jahrhundert, genauer im Jahr 1906. Nach Art von Virginia Woolfs Klassiker
„Orlando“ reist sie durch die Zeit, wechselt dabei ihr Geschlecht, ist
plötzlich ein Mann, mit allem Drum und Dran. Sanjeev heißt er und bekommt
erwähnten Savarkar und andere Revolutionäre in London hautnah mit. Damals
versammelte man sich auch in Wirklichkeit im sogenannten India House und
plante den Systemumsturz. Es sollte allerdings noch bis 1947 dauern, ehe
die britische Herrschaft über Indien endete.
„Antichristie“ bietet nicht nur einen Crashkurs in indischer Geschichte,
sondern macht mit so ziemlich allem vertraut, was es über das Land und
seine jüngere Vergangenheit zu wissen gibt. Wer sich ohnehin dafür
interessiert, hat beim Lesen einen klaren Vorteil.
So anschlussfähig wie die universitären Identitätsblasen und ihre medialen
Eskalationsschleifen in „Identitti“ dürfte das nicht sein, doch Sanyal
steuert mit populären Vehikeln dagegen. Agatha Christies Krimis und ihre
Verfilmungen dienen ihr als gutes Rahmengespinst. Daraus ergibt sich in
einem der Erzählstränge ein eigener Kriminalroman, in dem kein Geringerer
als Sherlock Holmes himself auftritt. Hinzu kommt Sanyals überbordender
Witz.
## Wie das Chaos einer indischen Straßenkreuzung
Ihr Roman führt nicht nur in die Jahre 2022 und 1906, sondern auch in die
1990er Jahre, als die Protagonistin Durga jung war. Die Zeitsprünge kommen
wie Jump Cuts im Film daher, also so abrupt wie ein Auffahrunfall.
Überhaupt wirkt die Überfülle in Sanyals Roman wie das Chaos einer
indischen Straßenkreuzung, in die von allen Seiten immer neue
Verkehrsteilnehmer strömen. In Sanyals Fall ein poetisches Verfahren, das
der Komplexität der Welt mit nichtlinearen Erzählweisen beikommt. „Warum
gab es keine einfachen Antworten auf komplexe Fragen?“, heißt es dazu
passend im Roman.
In der arrangierten Reizüberflutung lernt man immens viel: über
Kriminalromane, Indien, das Empire, Sci-Fi-Serien, Drehbuchschreiben,
Agatha Christie, das Kastensystem, Widerstandskämpfer und und und. Sanyal
sprudelt über vor Erzähllaune und wartet mit turbulenten Dialogen auf, die
zuweilen wie die verlaberten Helden aus Tarantino-Filmen klingen, etwa wenn
Durgas Leute sich darüber streiten, wer wo das erste Konzentrationslager
gebaut hat.
Wie schon in „Identitti“ kämpft sie mit der Erzählökonomie, merkt nicht,
wann sie das Spiel abpfeifen könnte. Davon abgesehen gelingt ihr ein
Zeitreiseroman, der die Debatten unserer Tage mit einer gescheiten
Geschichte über den Widerstandsgeist von heute und gestern kurzschließt.
## Perspektivwechsel
Das Totschlagargument „alles eine Frage der Perspektive“ schmuggelt Sanyal
dabei aufs Anschaulichste in ihren vielarmigen Roman. Von Indien aus
betrachtet leuchtet das britische Empire nun einmal weniger herrlich als
aus dem Buckingham Palace heraus. So erklären sich auch die
unterschiedlichen Reaktionen auf den Tod von König Elisabeth. Als
Vertreterin eines Unrechtssystems hat sie streng genommen kein Mitleid
verdient.
Eine Frage der Perspektive ist schließlich auch das Urteil über die
Vergangenheit. So stellt Durga einmal fest: „Ich war inzwischen darin
geübt, mein Erstaunen darüber für mich zu behalten, wie anders die
Vergangenheit von der Vergangenheit aus aussah.“ Dass manche Perspektiven
weniger wert scheinen als andere, macht der Roman spielend klar. Savarkar
doziert darin: „Die Dinge ändern sich erst, wenn sich die Machtverhältnisse
ändern.“ Der Kampf geht also weiter. In Mithu Sanyals Fall mit
Wissensdrang und Amüsierwillen. Man könnte es auch friedlichen Widerstand
nennen.
21 Sep 2024
## LINKS
[1] /Autorin-Sanyal-ueber-Vergewaltigung/!5332956
[2] /Mithu-Sanyal-ueber-Identitaet/!5749863
## AUTOREN
Shirin Sojitrawalla
## TAGS
Literatur
Roman
Postkolonialismus
Indien
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Kenia
Politisches Buch
deutsche Literatur
Critical Whiteness
Identitätspolitik
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