| # taz.de -- Schauspiel Dortmund: Urlaub für die Zeitpolizei | |
| > Julia Wissert, Intendantin des Schauspiels Dortmund, musste viel Kritik | |
| > einstecken. Nun wagt sie eine Bühnenadaption von Mithu Sanyals | |
| > „Antichristie“. | |
| Bild: Wütend im XXL-Ballonkleid: Szene aus „Antichristie“ | |
| Scharfe Reißzähne ragen aus dem Maul dieses Königstigers, der | |
| überdimensional auf der Bühne thront, verziert mit glitzernden | |
| Lianenvorhängen. Wohl für den Glamourfaktor dieses Showgenres: It’s | |
| Quiztime. Und so treten die Beteiligten aus dem Raubtierrachen heraus und | |
| versammeln sich um einen Buzzer zu einer postkolonialen Neuinszenierung | |
| eines TV-Formats, in dem das Wissen über die Geschichte fragmentarisch und | |
| eurozentrisch durchgespielt werde. Eine der Fragen: Wie viele | |
| Inder:innen starben während der britischen Kolonialherrschaft? Die | |
| Antwort: hundert Millionen Menschen. | |
| Niemand verlässt diese dreistündige Inszenierung, ohne über die genozidale | |
| Kolonialgewalt dazugelernt zu haben. Regisseur Kieran Joel, der bereits in | |
| Düsseldorf „Identitti“ für die Bühne adaptierte, hat sich im Schauspiel | |
| Dortmund nun auch an [1][Mithu Sanyals] über 500 Seiten schweren zweiten | |
| Schmöker gewagt, einen „antikolonial-zeitreisenden Detektivroman“, so der | |
| Untertitel von „Antichristie“. | |
| Darin erzählt Sanyal auf zwei Ebenen vom indischen Unabhängigkeitskampf. | |
| Ihre Protagonistin, gespielt von Maya Alban-Zapata, wirkt als | |
| Drehbuchautorin in einem Londoner Writer’s Room an einer antirassistischen | |
| Verfilmung eines Agatha-Christie-Krimis mit. Während draußen das britische | |
| Volk um die verstorbene Queen trauert, ringt Durga mit dem Tod ihrer Mutter | |
| Lila, eine linke Vollzeitaktivistin, die im Stück als Geist zurückkehrt. | |
| ## Alles wird durcheinandergewirbelt | |
| Da bereits Sanyal in ihrem Roman Zeit, Ort und Figuren | |
| durcheinanderwirbelt, findet sich Durga nicht nur im Körper ihres Doubles | |
| Sanjeev (Viet Anh Alexander Tran) wieder. Zurückkatapultiert ins Jahr 1906, | |
| diskutiert sie im India House mit den Rebellen der indischen | |
| Unabhängigkeitsbewegung, darunter Vinayak Damodar Savarkar, der Vater des | |
| Hindunationalismus. | |
| Dass sich Joel in der Inszenierung nicht an den Zeitschleifen aus der | |
| Vorlage verhebt, liegt am bewährten Inszenierungsrepertoire: Kostüme wie | |
| Maskenbild (Tanja Maderner) tauchen die Darsteller:innen ins | |
| Schwarz-Weiße, als Retro-Signal – so auch beim Schattenspiel von Durgas | |
| Verwandlung. Während durch die vielen Videoprojektionen die Stränge | |
| parallel ablaufen oder etwa die historischen Gesichter des indischen | |
| Widerstands auf der Leinwand erscheinen. Fast wie Gespenster. | |
| Bunter wird es, als Savarkar die orange-gelb-grüne Calcutta-Flagge | |
| schwenkt, ein Symbol der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Dazu scheppert | |
| die Hardcore-Punk-Band „Dead Pioneers“, deren Sänger und Aktivist Gregg | |
| Deal klarmacht: „The only good Indian is a dead Indian / I’m a bad Indian. | |
| I’m here“. Luis Quintana gibt diesen Savarkar als militanten Antipoden von | |
| Pazifismusikone Gandhi, der Bomben bastelt und Frantz-Fanon-Zitate droppt. | |
| Nicht nur die Sieger dürfen Geschichte schreiben. Und so wird die an die | |
| Kultserie „Dr. Who“ angelehnte Zeitreise damit kommentiert, dass die | |
| Zeitpolizei einen Tag Urlaub habe. Die Sprünge durch das Kontinuum codiert | |
| ebenso die Garderobe, die die Darsteller auf der Bühne wechseln wie | |
| Geschichtsepochen. Zeitreisesentenzen verkünden indessen alle mal | |
| stakkatoartig in die Kamera. In seiner dritten Arbeit während der Intendanz | |
| unter Julia Wissert beschwört Joel das Nichtlineare als politische | |
| Programmatik. | |
| ## Die Inszenierung steht exemplarisch für die Intendanz | |
| Das Spiel mit Historie und Perspektive lässt sich auch als einer der | |
| Schwerpunkte von Julia Wissert interpretieren, die im September 2020 die | |
| künstlerische Leitung in Dortmund übernahm, in einer postindustriellen | |
| Stadt, die von ihrer Vergangenheit aus Kohle, Stahl und Bierbrauerei zehrt. | |
| Als jüngste Intendantin in Deutschland eröffnete sie ihre erste Spielzeit | |
| mit dem verklausulierten Titel „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in | |
| der wir leben werden?“ Nach den erfolgreichen Jahren ihres Vorgängers Kay | |
| Voges, der die Bühne als multimediales Laboratorium auslotete, akzentuierte | |
| Wissert das Schauspiel Dortmund als Möglichkeitsmaschine, in der sich | |
| Kultur und Stadtraum, Gegenwart und Zukunft durchdringen. | |
| Doch ihr Start war geprägt durch die Pandemieeinschränkungen, wie sie | |
| erklärt: „Erst in der dritten Spielzeit konnten wir unter normalen | |
| Bedingungen produzieren und die Publikumsresonanz herausfinden.“ Erst | |
| langsam kletterten die Auslastungszahlen von 23 Prozent während Corona auf | |
| 55 bis 60 Prozent in den Spielzeiten 2023/24 bis 24/25. Ihr Vertrag wurde | |
| bis 2030 verlängert. Das geschah nach Initiative des SPD-geführten | |
| Kulturdezernats. | |
| Doch erstmals seit 1949 [2][besetzen die Sozialdemokraten in Dortmund nicht | |
| mehr das Oberbürgermeisteramt]. Das trat im November Alexander Kalouti | |
| (CDU) an, zuvor Pressesprecher des Dortmunder Musiktheaters. Wissert lässt | |
| sich kein klares Statement über ihren ehemaligen Kollegen entlocken, der im | |
| Wahlkampf gegen Arme und Drogenkranke wetterte, nur so viel: Es gehe | |
| weniger um das Amt, „sondern was sagt die Person und was ist die Politik, | |
| für die sie steht“. | |
| Deutlicher wird Wissert, wenn es um die Kritik an einem zu starken | |
| politischen Fokus ihrer Intendanz geht: „Warum wird es bei mir so stark | |
| herausgestellt? Nur weil ich hier bin, soll alles politisch sein. Aber das | |
| ist es immer, wenn wer die Macht hat, das Theaterprogramm zu gestalten, und | |
| die großartige Aufgabe hat, über die Welt erzählen zu dürfen.“ | |
| Während ihrer Intendanz [3][etablierten sich vielversprechende | |
| Regietalente]. Da wäre Lola Fuchs zu nennen, die mit der | |
| Neoliberalismus-Satire „Die Not steht ihr gut“ reüssierte. Mit Chuzpe hetze | |
| sie zuletzt durch Kleists „Der zerbrochene Krug“, dessen Provinzposse | |
| Instagram-mäßig getunt wurde und die Zumutungen der Gegenwart aufgreift: | |
| von Deutsche-Bahn-Misere bis Wehrpflichtdienst. | |
| Ähnlich schrill geraten Kieran Joels Inszenierungen, dessen erste Arbeit in | |
| Dortmund, „Das Kapital: Das Musical“, eine Kommerzialisierung des Theaters | |
| vor Augen führte, indes Marx-Exegeten die Nase rümpfen ließ. Auch mit | |
| „Antichristie“ beweist Joel, dass er Haltung und Entertainment verbinden | |
| will, versinnbildlicht am Gastauftritt des „politischen Gegners“: Im | |
| XXL-Ballonkleid stockend vor Wut über die Repräsentation marginalisierter | |
| Identitäten sackt diese Figur ein. Als stecke dahinter nur Luft. | |
| 4 Dec 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Benjamin Trilling | |
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