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# taz.de -- Neue Intendanz am Theater Dortmund: „Netflix hat es kapiert“
> Julia Wissert möchte den Theaterbetrieb aufmischen. Ihr Ziel ist die
> Repräsentation einer heterogenen Gesellschaft – auf der Bühne wie im
> Publikum.
Bild: Eine Mehrheit weißer männlicher Intendanten sieht Julia Wissert nicht m…
Zwei Theaterkarten wollte Julia Wissert darauf verwetten, dass das Theater
mehr bedeute als eine ausschließlich bildungsbürgerliche Angelegenheit.
Denn als sie in einer Dortmunder Kneipe mit Menschen plauderte, ging es
schnell um dieses Thema. Ihre Gesprächspartner:innen winkten ab, was an
ihrer sozialen Herkunft gelegen haben kann: Ihre Eltern malochten noch
körperlich, im Bergbau oder in der Stahlindustrie. Schauspiel oder gar
Perfomance?
Das erschien ihnen an diesem Kneipenabend wie eine ferne Welt, irgendwo
oben auf einem Elfenbeinturm. Julia Wissert hielt dagegen: „Lass uns doch
erst mal besprechen, was Theater überhaupt ist.“ Doch die
Kneipenbesucher:innen glaubten nicht daran. Kunst gehörte für sie nicht
zur Identität dieser Stadt.
In diesem Sommer übernahm Julia Wissert die Intendanz am Theater dieser
Stadt im Osten des Ruhrgebiets. Mit 36 Jahren ist sie die jüngste
Intendantin in Deutschland und die erste Schwarze Frau in dieser Position.
Ihr Weg dorthin verlief über eine „klassische“ Theaterlaufbahn: erste
Regieassistenzen in Freiburg, Basel und Oldenburg – schließlich ging es für
ein Studium nach London.
Sie arbeitete in den letzten Jahren in Metropolen wie Sydney. Und nun wird
sie fünf Jahre die künstlerische Leitung in einer Stadt verantworten, die
Jahrzehnte von der Industrie oder den Brauereien lebte. „Die Vergangenheit
spielt hier eine extreme Rolle“, sagt sie.
## Autor:innen aus Syrien, Kroatien, Israel, Kurdistan und dem Ruhrgebiet
Die Gegenwart entpuppt sich dagegen als trostlos: In manchen Bezirken liegt
die Arbeitslosenquote bei fast 25 Prozent, jede:r Vierte ist von Armut
betroffen. Doch wie sieht die Zukunft aus? Darum dreht sich die
Saisoneröffnung „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben
werden?“ Fünf Autor:innen aus Syrien, Kroatien, Israel, Kurdistan, aber
auch aus dem Ruhrgebiet wurden eingeladen, um Texte zu schreiben, welche
die Orte fiktiv umspannen.
„2170“ ist ein Erkundungsspaziergang, der Geschichte und Zukunft von
Dortmund befragt. Damit die Stadt ins Theater kommt, muss das Theater erst
in die Stadt gehen. Nach dem Vorbild des Theaters Zuidplein in Rotterdam
will die Intendantin auch einen Programmbeirat initiieren, der für
Bürger:innen ansprechbar sein soll.
Wissert bringt Schwung in die anstehenden Spielzeiten, sie steht für
Aufbruch. Doch es geht ihr ebenso um eine „Selbstbefragung des eigenen
Kunstverständnisses“, wie sie betont, um Privilegien und
Rollenaufteilungen. „Wenn wir auf der Suche nach einer neuen Ästhetik für
ein zukünftiges Stadttheater sind, dann müssen wir uns auch angucken, wie
wir produzieren.“ Denn Ungerechtigkeiten gehören auch zum Theaterbetrieb.
Letztes Jahr entwarf sie mit der Rechtsanwältin und Dramaturgin [1][Sonja
Laaser eine „Anti-Rassismus-Klausel“], um strukturellen Schieflagen zu
begegnen. [2][Denn Diversität gehört zwar in den Theaterhäusern] zu den
schillernden Schlagworten, der Alltag sehe strukturell aber anders aus, wie
Wissert kritisiert: „Glaubst du, dass es, ‚normal‘ ist, dass 75 Prozent
aller Intendanten in Deutschland weiße Männer sind?“
## PoC, LGBTIQ* und Menschen aus der Arbeiter:innenklasse
Dass oft dieses weiße Bildungsbürgertum die künstlerische Leitung
dirigiert, hinke der Realität einer heterogenen Gesellschaft hinterher. Wie
es in dieser Hinsicht besser geht, verrate ein Blick auf die
[3][Streamingplattform Netflix], ein Konkurrenzmedium, dem sich Wissert
stellen will. People of Color, LGBTIQ* oder Menschen aus der
Arbeiter:innenklasse schlüpfen in den Serien oft in die Hauptrollen.
„Netflix hat es kapiert, auch wenn sie keine bessere Welt, sondern Geld
machen wollen“, meint Wissert. „Aber das haben sie verstanden: Je breiter
sie in Fragen von Repräsentation aufgestellt sind, umso besser können sie
ein größeres Publikum erreichen.“
Das Maxim Gorki Theater in Berlin hat ein Programm und ein Ensemble
entwickelt, das innerhalb der deutschsprachigen Bühnenlandschaft am ehesten
einer breiten Repräsentation entspricht. Aber den Stempel des
„Postmigrantischen“ lehnt Wissert ab. Identitäten sollen kein Gegenstand,
sondern nur Folien der Projekte sein. Als Nachfolgerin des Gorki-Theaters
betrachtet sie sich nicht: „Wir sind das, was nach dem Postmigrantischen
kommt“, und das nennt sie eine „Ästhetik der Zukunft“.
Gegenentwürfe und Utopien sollen mit den Missständen der Gegenwart
konfrontiert werden: „Ich habe keine Lust mehr, [4][mich mit Rassismus
auseinanderzusetzen.] Das erlebe ich jeden Tag. Mich interessiert vielmehr,
wie ich Räume schaffen kann, in denen diskriminierte und ausgeschlossene
Menschen erleben, dass es auch anders aussehen könnte.“
## Mit Afrofuturismus gegen eine rassistische Welt
Im Schauspielhaus Bochum entwickelte sie letztes Jahr gemeinsam mit
Jugendlichen das Stück „2069 – Das Ende der anderen“, ein
Sciencefiction-Szenario, in dem zwei Zeitreisende durch ein nebeliges
Bühnenbild irrlichtern, das apokalyptischen Filmwelten entlehnt scheint. Es
sind zwei Forscher, die sich vorsichtig vorantasten. Sie schauen unter eine
große Bauplane, welche die gesamte Rampe bedeckt. Und stoßen auf alte
Relikte, böse Geister, die Hass und Zwietracht säen.
Die giftigen Worte werden lauter, vermengen sich schließlich zu lauten,
elektronischen Signalen. Wortbruchstücke wie „Volkswille“ erklingen. Bis
sich ein Sturm entlädt, mit dem auf der Bühne eine Erfahrung eine sinnliche
Wucht entfaltet: Rassismus. In der Tradition des Afrofuturismus eröffnet
sie Perspektiven, mit denen eine rassistische Welt mit Utopien konfrontiert
wird, statt eine Betroffenensicht zu schildern.
Solche dramaturgischen Strategien erlauben einen anderen Blick auf die
aktuellen Verhältnisse und setzen Empowerment in Szene. Das gilt auch für
die Intendanz in Dortmund: „Wir haben hier eine Maschine. Wir können jede
Wirklichkeit in diesem Raum behaupten. Das ist ein Experimentallabor für
die ganze Stadtgesellschaft“. Ihre Devise: Strukturen hacken, reingehen und
stören.
## Mit einem Phönix auf Stadtspaziergang
Dafür tritt am Premierenwochenende von „2170“ erneut ein Zeitreisender auf.
Der von Christoph Heisler gespielte Phönix kauert im Publikumssaal, während
die Besucher:innen auf der Bühne stehen. Dieser Phönix stellt sich als
einer vor, der in der Gleichzeitigkeit aller Zeiten lebt und die Geschichte
durcheinanderwirbelt.
Daher entlehnt er ein Zitat von Walter Benjamin, dem zufolge es eine
Verabredung mit dem Gewesenen gibt und zugleich einen Verweis auf die
Erlösung. Ja, so viel Philosophie muss sein, bevor dieser Phönix, so etwas
wie die dramaturgische Klammerfigur des Abends, das Publikum zum
Stadtspaziergang entführen will.
Kurz geht es noch in einen Warteraum, wo das Publikum ein Instruktionsvideo
sieht. Bevor sich Julia Wissert an die Besucher:innen wendet. Ein Auftritt
der künstlerischen Leiterin während einer Aufführung verheißt gewöhnlich
nichts Gutes. Und mit Blick auf den zunehmenden Regen draußen lässt es sich
erahnen. Die Vorstellung, der Stadtspaziergang, muss an dieser Stelle
abgeblasen werden. An diesem Abend stottert die Maschine noch.
29 Sep 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Benjamin Trilling
## TAGS
Diversität
Schwerpunkt Rassismus
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Theater
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Deutsches Schauspielhaus
Frauen im Film
Geflüchtete
Schwerpunkt Rassismus
Theater Berlin
Oberhausen
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