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# taz.de -- Diversitätsreferent über Theaterarbeit: „Wir bauen Barrieren ab…
> Mohammed Ghunaim ist Diversitätsreferent am Hamburger Thalia Theater.
> Durch außereuropäische Künstler*innen will er neue Ideen ermöglichen.
Bild: Setzt auf Kunst als Motor von Veränderung: Mohammed Ghunaim
taz: Herr Ghunaim, was macht ein Diversitätsreferent wie Sie am Theater?
Mohammed Ghunaim: Auf Kunst als Motor von Veränderung setzen. Das mache ich
zusammen mit meiner Kollegin Sophie Pahlke Luz – wir teilen uns die Stelle
– hier am [1][Hamburger Thalia Theater]: Künstler*innen aus
verschiedenen kulturellen Kontexten können durch unsere Intervention neue
Ideen auf deutsche Bühnen bringen und so Verständnis für
weltemanzipatorische Bewegungen generieren.
Wie genau intervenieren Sie?
Natürlich finden wir ein Gefüge an Strukturen vor, und die ändert man nicht
mal eben. Manchmal sind sie auch nicht zu ändern, denn es sind
Machtstrukturen, oft beherrscht von weißen Männern. Und selbst beim Theater
kann es dauern, bis Kultursensibilität entsteht. Hier ist dieser Prozess
jetzt gut in Gang gekommen – auch deshalb, weil die Intendanz entschied,
dass es überfällig war, eine rassismuskritische Haltung zu entwickeln.
Was haben Sie seit Amtsantritt im Januar schon bewegt?
Meine Kollegin und ich sind ja nicht neu am [2][Thalia Theater]. Ich leite
seit 2017 die „[3][Embassy of Hope] – Café International im Thalia in der
Gaußstraße“. Das war anfangs ein Treff für Geflüchtete, wo man sich
unterhielt, Tee trank, kochte, musizierte. Inzwischen ist es ein Ort mit
regelmäßigem Kulturprogramm in verschiedenen Sprachen mit eigenem
Stammpublikum geworden. Und wir haben gleich Anfang 2021 einen
literarisch-musikalischen Salon mit Black, Indigenous und People of Colour
dieser Stadt auf der kleinen Bühne im Thalia veranstaltet. So ermöglichen
wir es Künstler*innen, die nicht an einer deutschen Hochschule studiert
haben, an einem Staatstheater aufzutreten. Wir sind Bindeglieder und
versuchen, Barrieren abzubauen.
Haben „Ihre“ Künstler*innen auch schon auf der großen Bühne des Thalia
gespielt?
Ja, 2020 zur Veröffentlichung der Anthologie „Stimmen aus dem Exil“. Da
waren wir ausdrücklich eingeladen, weil wir Expert*innen für dieses
Thema sind. Es war ok, aber viele der Künstler*innen wünschen sich,
nicht nur in diesem Kontext aufzutreten, sondern als
Repräsentant*innen eines weniger eurozentristischen Kulturraums.
Haben Sie auch Einfluss auf Repertoire und Rollenbesetzung?
Das Repertoire können wir nicht direkt beeinflussen, denn dafür gibt es
eine Struktur: Dramaturgie und Intendanz. Trotzdem hat sich etwas geändert:
Bisher wurden wir eher bei informellen Gesprächen, etwa in der
Zigarettenpause, gehört. Inzwischen nehmen wir regulär an den
Dramaturgiesitzungen teil. Aber wir wissen auch: Große Spielbetriebe
erstellen ihre Spielpläne zwei Jahre im Voraus. Wir haben uns also gefragt:
Was können wir kurzfristig ändern? Und da haben wir für Oktober 2021 ein
zehntägiges Theaterfestival mit zwei Premieren auf die Beine gestellt.
Zu welchem Thema?
Die Stücke – eins von der bekannten türkischen Schauspielerin Idil Üner und
eins vom Autor Nail Doğan – basieren auf Theater-Rechercheprojekten zum
Thema „Fremde“. Die Schauspieler*innen werden wie Fremde durch das
gentrifizierte Altona und Ottensen laufen und Kontakt zu den
Anwohner*innen suchen. Das zweite Stück wird die erste
Gastarbeiter*innen-Generation nach ihren Anfängen in Deutschland fragen.
Den Anfang machen die Eltern des Filmemachers Fatih Akin.
Und wie befördern Sie diversitäts- und gendergerechte Sprache?
Wir haben am Thalia Workshops für die Mitarbeiter*innen organisiert –
wobei die Intendanz darauf bestand, gemeinsam mit allen anderen zu lernen.
Und ich bin wirklich erleichtert, dass ich nicht mehr um Geld und
Anerkennung kämpfen muss wie in den ersten Jahren der Embassy of Hope.
Fühlen Sie sich inzwischen auch persönlich hier zu Hause?
Im Moment ist viel St. Pauli und Damaskus und auch Palästinensisches in mir
– ich bin ja palästinensisch-syrisch. Aber ich bin angekommen. Ich kenne
alle auf dem Kiez, alle kennen mich. Und wo Zuhause ist – da kann ich auch
mal müde sein, wie jetzt. Aber natürlich habe ich aus meiner Kultur
Erinnerungen mitgebracht, auch das Moralische, Solidarische. Die Liebe zur
Sprache und zu meiner Familie, die großteils noch in Syrien ist. Deshalb
habe ich manchmal Heimweh.
Woran liegt das?
Als vor einigen Wochen der Ramadan zu Ende ging, kam die ganze Nostalgie
wieder hoch. Es wird in deutschen Medien oft so dargestellt, als wäre das
ein islamisches Fest. Für uns Damaszener ist es aber eher eine Kultur der
Familientreffen mit den ganzen friedlichen Ritualen unter dem 4.000 Jahre
alten Olivenbaum hinter unserem Haus. Das hat mir sehr gefehlt.
Wie geht es Ihren Eltern und Geschwistern in Damaskus?
Die Menschen leben. Sie müssen ja. Sie sind „glücklich“ – was natürlich
nicht dasselbe ist wie hier. Deshalb fühle ich mich manchmal schuldig, denn
ich lebe hier gut – und sie leben mitten im Krieg. In Damaskus selbst ist
es relativ ruhig, aber der Alltag ist mühsam. Trotzdem: Die Menschen
lachen. Obwohl sie kein Geld haben, obwohl es Probleme mit Strom und Wasser
gibt, schaffen sie es, Leute zu treffen und sich einen netten Abend zu
machen.
Wie viel Kontakt haben Sie nach Damaskus?
Wenn es dort gerade Strom gibt, telefoniere ich einmal pro Woche mit meinen
Eltern. Kürzlich zum Beispiel habe ich lange mit meinem Vater über Poesie
gesprochen. Denn meine Mutter ist Autorin, und ich glaube, mein Vater ist
ein bisschen neidisch. Andererseits ist er begeistert von der arabischen
Sprache und stolz auf meine Mutter.
Was schreibt Ihre Mutter?
Kurzgeschichten für Kinder und Gedichte für Erwachsene. Sie steht öfter mit
Lesungen auf der Bühne. Im Hauptberuf ist sie Lehrerin. Da aber die
Infrastruktur schlecht ist, haben laut UNICEF 60 Prozent der Kinder keinen
Zugang zu Bildung. Meine Mutter übernimmt hier Verantwortung, läuft durch
die Straßen von Damaskus und unterrichtet die Kinder, oft auch deren
Eltern, in ihren Wohnungen.
Tut sie das ehrenamtlich?
Ja. Dabei verdient meine Mutter als Lehrerin nur rund 23 Euro im Monat.
Kann man in Syrien davon leben?
Nein. Und mein Vater – eigentlich gelernter Bäcker – findet zurzeit nur
Gelegenheitsjobs. Deshalb zahle ich ihnen eine monatliche Unterstützung.
Sie haben andernorts den Schal Ihrer Mutter erwähnt, den Sie auf die Flucht
mitgenommen haben. Was bedeutet er Ihnen?
Die Hoffnung. Und zufällig heißt meine Mutter „amal“ – arabisch für
„Hoffnung“. Ich habe ihn früher immer genommen, wenn ich mit Freunden
unterwegs war. Sie wollte das nicht, es ist ja ein feiner Seidenschal. Als
wir uns 2015 nachts in Damaskus verabschiedeten, hat sie ihn mir gegeben
und gesagt: „Dein Weg sei grün wie die Hoffnung.“
Tragen Sie ihn täglich?
Jetzt nicht mehr. Aber anfangs habe ich ihn immer über meine Schultern
gelegt.
Worauf richtet sich Ihre Hoffnung?
Auf eine Zukunft in Deutschland, die ich in Syrien nicht sehe. Dort werde
ich verfolgt und eine Änderung der politischen Lage ist nicht erkennbar. Es
gibt keine Chance. Nicht nur für mich als politisch verfolgten Aktivisten,
sondern für alle Syrer*innen, die fliehen mussten. Rückkehrer*innen
würden als Verräter*innen gelten und der Präsident hat gedroht: „Wenn
ihr zurückkommt, werdet ihr schon sehen, was wir mit euch machen!“ Selbst
hier achte ich darauf, dass ich durch meine Aktivitäten nicht meine Familie
in Syrien gefährde. In der Nische des Theaters, wo man vieles
verklausulieren kann, funktioniert das ganz gut. Und ich spreche nicht nur
für meinen Fall.
Aber er ist ein Beispiel.
Ja. Abgesehen von der fehlenden Solidarität der europäischen Länder frage
ich in meinen Texten und Performances: Was bedeutet es, die Heimat zu
verlassen, um das eigene Leben zu fürchten, keine Zukunft zu sehen? Da ich
das selbst erlebt habe, ist es meine moralische Verantwortung, über all das
zu reden. Es geht darum, das Bild, das einige Medien von Syrien zeichnen,
zu korrigieren. Das persönliche Trauma allerdings bleibt. Die Albträume
kommen jeden Tag, jede Nacht. Sie besuchen dich und sagen: „Du bist jetzt
wieder zurück und dann bist du in einer Zelle.“
Wie gehen Sie damit um?
Ich habe mir professionelle Hilfe gesucht. Außerdem hilft mir mein Weg.
Denn durch Kunst kann ich jederzeit meinen Vater oder meine Mutter auf die
Bühne bringen. Für meine Performance „Stimmen aus dem Exil“ hatte sie ein…
Text geschrieben und von Damaskus aus ein Video besprochen, das im Thalia
in der Gaußstraße zu sehen war. Ihre Stimme war auf der Bühne, hier in
Altona, ganz nah.
5 Jul 2021
## LINKS
[1] /Theaterfestival-Lessingtage/!5746176
[2] https://www.thalia-theater.de/de/
[3] /Pastor-Wilm-ueber-fuenf-Jahre-Lampedusa-in-Hamburg/!5514216
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
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