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# taz.de -- Gerichtsdrama über Abschiebung: Das Gesetz und die Realität
> Im tak Theater in Berlin ist ein großartiges Stück über Abschiebung
> entstanden, das Entscheidungsspielräume im deutschen Asylrecht
> ausleuchtet.
Bild: Anke Retzlaff und Corinna Harfouch in der Theater-Videoinstallation „ge…
Vorsichtig füllt die Verwaltungsrichterin Teeblätter in eine Papiertüte.
Vor wenigen Minuten hatte sie in der Teestube ein informelles Treffen mit
dem Rechtsanwalt eines Klägers. Ein Afghane, der gegen das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge (Bamf) klagt. Während des kurzen Gespräches mit
dem Anwalt wurde sie von der Gerichtspräsidentin telefonisch daran
erinnert, bei dem nächsten Urteil die inoffiziell festglegten
Aufnahmequoten für die verschiedenen Regionen Afghanistans zu beachten.
Das ist die Ausgangssituation von „geRecht“ im [1][kleinen Theater Aufbau
Kreuzberg], das sich mit der Ambivalenz des deutschen Asylrechts
auseinandersetzt. Folgerichtig liegt der inhaltliche Fokus auf der Figur
der Verwaltungsrichterin, die der Beeinflussung mehrerer Seiten ausgesetzt
eine Entscheidung treffen bzw. zu einem Urteil kommen muss.
Das [2][transnationale Team von suite42] um die [3][Regisseurin Lydia
Ziemke] hat im Vorfeld gründlich recherchiert und das Gespräch mit
JuristInnen gesucht. Viel Information wird so gestreut bezüglich der
juristischen Spitzfindigkeiten der hiesigen Asylgesetzgebung. Die Erzählung
(von Mehdi Moradpour, Matin Soofipour Omam und Peca Stefan gemeinsam
entwickelt) um einen afghanischen Asylbewerber, eine deutsche Richterin und
ihren Sohn, der als Fotograf in Kriegsgebieten unterwegs ist, ist
holzschnittartig aufgebaut.
Corinna Harfouch aber schafft es, die Figur der Richterin mit Nuancen
auszustatten, die neben der souveränen Juristin auch die auf sich selbst
zurückgeworfene Erinnernde – die von ihrer eigenen Flucht aus der DDR
eingeholt wird – sowie die Mutter, die sich um ihren Sohn sorgt,
glaubwürdig machen.
Vor allem ästhetisch ist diese Filminstallation, die ohne die Pandemie eine
Theaterinszenierung geworden wäre, ein Ereignis. So verteilt der
Videokünstler Daniel Hengst die verschiedenen Filmsequenzen auf mehrere
transparente Stoffbahnen. Daraus ergeben sich je nach Bespielung
unterschiedliche Binnenräume im Saal. Zusätzlich entsteht eine spannende
Dreidimensionalität. So pflanzen sich die Videoeinstellungen fort –
szenisch parallel zu den Schritten der durchs Leipziger Verwaltungsgericht
eilenden Richterin.
Probiert man unternehmungslustig unterschiedliche Blickwinkel aus in dieser
begehbaren Installation, dann ergeben sich interessante Effekte: so ist
immer wieder im Vordergrund eine Einstellung, im Hintergrund quasi
durchschimmernd noch eine bzw. sogar zwei zu sehen. Was ästhetisch und
inhaltlich sehr anregend sein kann.
So blickt man z. B. durch säuberlich geordnete Gerichtsakten, die von der
Gerichtsreferendarin nach Hinweisen zum Kläger durchforstet werden, auf die
Richterin in ihrem Büro, die erfolglos versucht, ihren Sohn telefonisch zu
erreichen.
## Komplexität der Übersetzung
Die Darstellung der Gerichtsdolmetscherin ist ein Balanceakt, der gelingt.
Dadurch, dass Anke Retzlaffs Dolmetscherin die Worte der Richterin in
einfaches Deutsch übersetzt und so eine Nuancenverschiebung stattfindet,
aus der sich in der Folge immer wieder Missverständnisse ergeben, wird die
extreme Komplexität von Sprachübertragung, u. a. wegen der
unterschiedlichen kulturellen Codes, speziell in diesem Kontext
nachvollziehbar.
Die Geschichte des afghanischen Asylbewerbers (Omar El-Saeidi) bleibt ein
Rätsel. Ist er wirklich schwul und hat er für die Deutschen gearbeitet?
Oder benutzt er diese Geschichte, damit sein Fall zu den hier geschaffenen
Paragrafen passt? In einer Traumsequenz erzählt der Asylbewerber der
Richterin alle möglichen Geschichten, die seine sein könnten. Und sein
Anwalt (Roland Bonjour) sagt irgendwann entnervt zur Richterin: „Wann
werden Sie endlich das Gesetz an die Realität anpassen?“
Harfouchs Richterin flüchtet sich mental in die Welt der Ameisen, denn da
hat aus ihrer Sicht alles seine richtige Ordnung. Jede Ameise hat ihre
Funktion und stirbt einsam, um dem Staat nicht zur Last zu fallen. Auf den
Leinwänden wuseln dann kurzzeitig kunstvoll Ameisen und geben dem ganzen
Raum eine unwirkliche Aura. Gegenpol dazu ist der rieselnde Sand, der immer
wieder die Leinwände herunterflimmert: Afghanistan ist zum Greifen nah.
Weil wir es hier mit Theater zu tun haben, spricht die Richterin zwei
unterschiedliche Urteile ins Diktiergerät. Bleiberecht oder Abschiebung,
beides ist möglich bei ein und demselben Fall. Realität in deutschen
Verwaltungsgerichten. Suite42 bleibt dran an dieser Wirklichkeit und plant
zwei weitere Folgen von „geRecht“. Unwillkürlich denkt man an „Theater a…
moralische Anstalt“. Aufklärung im Geiste von Friedrich Schiller und
Gotthold Ephraim Lessing. Und an heutige Koordinaten: definitv
systemrelevant.
22 Jul 2021
## LINKS
[1] https://tak-berlin.de/
[2] http://www.suite42.org/produktionen/gerecht/
[3] /Theater-im-Libanon/!5472716
## AUTOREN
Katja Kollmann
## TAGS
Theater
Videoinstallation
Asylrecht
Abschiebung
Schwerpunkt Afghanistan
Migration
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Regie
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Taliban
Schwerpunkt Afghanistan
Geflüchtete
Maxim Gorki Theater
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