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# taz.de -- Regierung verharmlost Afghanistan-Lage: Gefährlich geschönt
> Das Auswärtige Amt verharmlost in seinem Bericht den Vormarsch der
> Taliban. Die taz konnte das unter Verschluss gehaltene Dokument einsehen.
Bild: Ein Soldat der afghanischen Armee in der Provinz Kandahar
Berlin taz | Das hat die Bundesregierung schlau angestellt. [1][Nachdem die
afghanische Regierung am 8. Juli wegen der größten Taliban-Offensive seit
2001 alle Abschiebungen in ihr Land abgesagt hatte], hieß es aus Berlin:
Man werde die „Bitte“ Afghanistans prüfen. [2][Eine Änderung der
Abschiebepraxis in das Land sei aber nicht geplant.] Auf Grundlage eines
neuen Afghanistan-Lageberichts des Auswärtigen Amtes (AA) solle entschieden
werden, „wie es weitergeht“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am
12. Juli. Recherchen der taz zeigen nun, dass der Lagebericht ein
geschöntes Bild der Sicherheitslage in dem Land zeichnet und damit
Abschiebungen nach Afghanistan erleichtern könnte.
Am Montag teilte das AA mit, der Bericht sei „an die Empfänger“ – das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), die in Asylsachen
entscheidenden Verwaltungsgerichte und die Innenbehörden der Länder –
versandt worden. „Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage“,
wie diese sperrig-offiziell heißen, seien Verschlusssachen, deshalb könne
er über Details „keine Auskunft geben“, sagte ein Sprecher des AA.
Die taz hat den Bericht vorliegen, und eine Analyse der 26 Seiten zeigt,
dass das AA an mehreren Stellen veraltete oder falsche Behauptungen
aufstellt, die die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan beschönigen.
Andere Auszüge widersprechen [3][einer viel zitierten Studie von Friederike
Stahlmann von Mai 2021, die die Diakonie Deutschland über Afghanistan in
Auftrag gegeben hatte.]
Auf den ersten Blick fällt auf, dass der AA-Bericht in Teilen bereits
veraltet ist. Angegeben ist „Stand Mai“, ob Anfang oder Ende des Monats,
bleibt offen. Das ist im Fall Afghanistans aber relevant, denn Anfang Mai
begann dort die große Taliban-Offensive. [4][Die Aufständischen nahmen
seither etwa 200 von 388 Distrikten des Landes ein], rund 15 konnten die
Regierungstruppen wieder zurückerobern. Anfang Mai hingegen kontrollierten
die Taliban nur 32 Distrikte.
Bodenkämpfe sind die größte Gefahr für Zivilist:innen in Afghanistan.
[5][Dass dies „wie schon im Vorjahr“ immer noch so sei, bestätigen die
Vereinten Nationen in ihrem Zivilopferbericht für das erste Quartal 2021.]
Dies unterschlägt das AA in seinem Bericht.
Die Behörde schreibt auf Seite 4 ihres Dokuments, es gebe „starke regionale
Unterschiede“ in der Sicherheitslage und hinreichend sichere Gebiete für
Abschiebungen. Doch tatsächlich blieben nur wenige, meist periphere
Regionen von der Taliban-Offensive und den damit verbundenen Kämpfen
verschont.
Die Taliban starteten selbst in drei von vier bislang verschonten Provinzen
– Daikundi, Chost und Kunar – Angriffe. [6][Auch in einigen Gebieten der
Provinz um die Hauptstadt Kabul tauchten ihre Spezialtruppen, „rote
Einheiten“ genannt, auf.] Hier wurde die Bevölkerung aufgerufen, die Häuser
nicht zu verlassen, und das sind Anzeichen für bevorstehende Kämpfe, wie
die Ereignisse in anderen Provinzen zeigten.
„Abgesehen von temporären Straßensperren und akuten Kampfhandlungen
bestehen keine dauerhaften Bewegungsbeschränkungen“ für Verfolgte und
Bedrohte, schreibt das AA auf Seite 16 des Berichts. Statt in Deutschland
Asyl zu suchen, sei es ihnen „grundsätzlich möglich“, „in die größeren
Städte auszuweichen“. Das ist stark übertrieben: Tatsächlich
kontrollieren die Taliban seit dem Abzug Hunderter Regierungsposten die
meisten Überlandstraßen und damit auch die Bewegungsfreiheit der
Afghan:innen fast nach Belieben.
## Das AA lässt einen UN-Bericht unerwähnt
Sie suchen vor allem nach Mitarbeitern der bedrängten, nach Meinung einiger
Analysten sogar kurz vor dem Sturz stehenden Regierung. Auch Angehörige der
gebildeten Schichten versuchen deshalb derzeit, aus dem Land zu fliehen.
Sie könnten demnächst eine wichtige neue Gruppe von Asylantragstellern
werden. Zwar verkündeten die Taliban für sie eine Amnestie, aber nur wenn
sie ihre Regierungsjobs freiwillig verließen. Immerhin merkt das AA an, die
Absorptionsfähigkeit der afghanischen Großstädte sei „durch die hohe Zahl
der Binnenvertriebenen und Rückkehrer bereits stark beansprucht“.
Das AA hebt hervor, dass im Jahr 2020 weniger zivile Kriegsopfer zu
beklagen waren als im Jahr davor. Es erwähnt aber nicht, dass laut erstem
UNO-Quartalsbericht 2021 „das außerordentliche Niveau an Schaden“, den der
Krieg Zivilist:innen insgesamt zufüge, „unverändert“ blieb und in
diesem Quartal sogar noch „signifikant höher“ als im Vergleichszeitraum
war. Dem AA dürfte zudem bekannt sein, dass die Zahl der bewaffneten
Auseinandersetzungen seit Mitte 2020 fast dauerhaft und oft um ein
Vielfaches höher war als seit 2014, dem Ende der Nato-Kampfmission Isaf.
Im Bericht hingegen steht auf Seite 6, die Taliban „versuchen“, ihren
Einfluss „zu konsolidieren und auszuweiten“, und dass der westliche
Truppenabzug ihre Bewegungsfreiheit vergrößert. Das ist nur ein schwacher
Abglanz der Realität, denn die Taliban stehen vor den Toren der Städte mit
den Flughäfen, auf denen auch die Abschiebeflieger landen.
## Informationen aus dem Vorjahr
Zur Gesamtlage verwenden die AA-Autor:innen beschönigende Textbausteine aus
Vorgängerberichten. Dass Afghanistan sich „weiterhin in einer schwierigen
Aufbauphase mit einer volatilen Sicherheitslage“ befinde (Seite 4) ist eine
maßlose Untertreibung: Afghanistan ist weltweit Kriegsland Nummer 1. Auf
Seite 15 steht, dass es nach dem ursprünglich ausgehandelten Abzugsdatum
für die westlichen Truppen, dem 30. April 2021, zu einem „weiteren
Gewaltanstieg und erhöhtem Druck der Taliban“ gekommen sei. Hinter Sätzen
wie diesem bleibt die akute Negativdynamik verborgen.
Dass nach dem US-Abkommen mit den Taliban vom Februar 2020 „keine“ ihnen
„zuzuschreibenden Angriffe von besonderer strategischer und medialer
Bedeutung“ zu verzeichnen gewesen seien (Seite 5), ist eine Information aus
dem Vorjahr. Die Voraussage, es sei „möglich, dass sich der Trend der
Ausweitung des Einflussgebiets der Taliban in den nächsten Monaten
beschleunigen wird“, ist hingegen eine längst eingetretene Tatsache.
Im Juni hatte der Europäische Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg die deutsche
Rechtsprechung, Flüchtlingen nur subsidiären Schutz zu gewähren, wenn die
Zahl der zivilen Opfer pro Kopf der Bevölkerung in ihrer engeren
Heimatregion eine bestimmte Quote übersteigt, für nicht vereinbar mit
europäischem Asylrecht erklärt. Pro Asyl hatte errechnet, [7][dass mit
dieser sogenannten Gefahrendichte selbst Dresdner:innen während der
alliierten Luftangriffe 1945 keinen Schutz erhalten hätten.] Laut EuGH darf
der Schutz von Kriegsflüchtlingen also nicht an der Kampfintensität
festgemacht werden.
## Den deutschen Behörden wird etwas vorgemacht
Der Bericht widerspricht der ausführlichsten Studie zu diesem Thema, die
die Diakonie in Auftrag gegeben hatte und der zufolge aus Deutschland
abgeschobene Afghanen dort gezielt bedroht und angegriffen wurden. Dem AA
seien „keine Fälle“ davon bekannt, schreibt die Behörde auf Seite 24. Off…
bleibt, ob es überhaupt nachgeforscht hat – in der Vergangenheit war
erklärt worden, das sei nicht nötig, denn ab Übernahme am Kabuler Flughafen
seien die afghanischen Behörden für diese Menschen verantwortlich.
Den deutschen Abschiebebehörden wird gleichzeitig die Existenz eines
Systems an Aufbauhilfen und Therapien für Abgeschobene vorgegaukelt, das
tatsächlich höchst unzureichend ist. Der Bericht blendet auch die Realität
eines nicht nur wegen der anhaltenden Coronakrise in die Knie gegangenen
Gesundheitssystems aus. In der Städten mag es „ein ausreichendes Netz von
Krankenhäusern und Kliniken“ geben, aber die meisten sind privat und für
Abgeschobene unerschwinglich.
Insgesamt erfüllt der Bericht nicht den von Regierungssprecher Seibert
angegebenen Zweck, Entscheidungen zur Abschiebung „auf der Basis einer
immer wieder aktualisierten, sehr genauen Beobachtung der Lage“ treffen zu
können. Er beschreibt die Lage vor fast zwei Monaten und manchmal die des
Vorjahrs, und das ist nicht so aktuell wie nötig und möglich. Er ermöglicht
es Asylrichtern aber herauszulesen, dass die Lage in Afghanistan zwar
schwierig, aber so schlimm auch wieder nicht sei – besonders jenen, die
keine unabhängigen Quellen zu ihrer Urteilsfindung heranziehen.
23 Jul 2021
## LINKS
[1] /Taliban-auf-dem-Vormarsch/!5784912
[2] /Abschiebungen-nach-Afghanistan/!5787384
[3] https://www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Journal_PDF/AFG…
[4] /Gewalt-in-Afghanistan/!5781587
[5] https://unama.unmissions.org/civilian-casualties-hit-new-high-2015
[6] /Bundeswehr-Abzug-aus-Afghanistan/!5779297
[7] https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2016/08/PROASYL_Afghanistan_Brosc…
## AUTOREN
Thomas Ruttig
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