| # taz.de -- Freiheitsrechte in Afghanistan: Radeln gegen die Taliban | |
| > Junge AfghanInnen berichten vom Vormarsch der Islamisten. Und warum sie | |
| > trotzdem an ihren Träumen von einem besseren und freieren Leben | |
| > festhalten. | |
| Bild: Um sich vor bewaffneten Angriffen zu schützen, findet das Training an ei… | |
| Kabul taz | Zwei bewaffnete Wächter stehen an einer Schranke, die nur für | |
| Anwohner geöffnet wird. Unter einem kleinen Schild ist eine Stahltür zu dem | |
| Café, in dem das Treffen mit der Künstlerin und Frauenrechtlerin Rada Akbar | |
| in Kabul stattfinden soll. Die Tür wird von innen geöffnet, ein Wächter | |
| fragt nach dem Besuchsgrund, misst die Temperatur der Eintretenden und | |
| erfasst ihre Kontaktdaten – Letzteres nicht wegen Corona, sondern aus | |
| Sicherheitsgründen. Ein Schild verweist auf das hier geltende Waffenverbot. | |
| Dann beginnt ein Idyll: ein Garten, in dem nur Vogelgezwitscher und leise | |
| Gespräche zu hören sind. Doch auch hier weist ein US-Luftschiff am Himmel, | |
| das Kabul von oben beobachtet, auf die angespannte Sicherheitslage hin. | |
| [1][Die Taliban sind auf dem Vormarsch]. | |
| „Während wir vor wenigen Monaten noch ignorieren konnten, wie schlimm die | |
| Lage in Afghanistan ist, lässt sich das jetzt nicht mehr wegschieben“, sagt | |
| die 33-Jährige und rührt dann schweigend in ihrem Tee. Kaffee sei derzeit | |
| nicht lieferbar, abgesehen davon, dass die Kaffeemaschine ohne Strom | |
| ohnehin nicht funktioniere, wie der Kellner entschuldigend erklärt. | |
| Als Künstlerin und Kuratorin übersetzt Akbar politische Themen in Werke | |
| unterschiedlicher Art: Im letzten Jahr arbeitete sie mit einer | |
| feministischen Modenschau, dieses Jahr schuf sie aus verzierten | |
| Holzstellwänden eine kleine Moschee mit Spiegelwänden. BetrachterInnen | |
| wurden in Nebel und Musik gehüllt und mussten sich als Teil des Werks | |
| fragen, ob sie beim Lynchmord einer Frau durch einen Mob wegschauen oder | |
| eingreifen würden. Zurzeit erarbeitet sie ein Konzept für ein virtuelles | |
| Museum zur afghanischen Frauengeschichte. | |
| Sie sei durch das [2][Erstarken der Taliban] langsamer geworden, sagt | |
| Akbar. Einfachste Schritte an ihren Projekten dauerten nun Stunden, weil | |
| sie durch die psychische Belastung in einem Zustand der Dauermüdigkeit ist. | |
| Doch mache sie weiter, es sei gerade jetzt wichtig, ihre Stimme zu erheben: | |
| „Ich bin nicht die eine Ausnahme.“ | |
| ## Afghanistan gibt es nicht erst seit dem Nato-Einsatz | |
| Akbar kritisiert, dass sie oft gefragt werde, ob sie mit ihren auffälligen | |
| Outfits als Feministin und Künstlerin denn afghanische Frauen in ihrer | |
| Gesamtheit repräsentieren könne. Heute trägt sie eine extravagante Brille, | |
| eine leuchtend blaue Bluse mit großen Volants zur engen Jeans. „Als Männer | |
| das jahrzehntelang gemacht haben, hat niemand diese Frage gestellt.“ Dabei | |
| gehöre Feminismus doch zur Geschichte des Landes. „Als meine Mutter in den | |
| 70er-Jahren jung war, konnte sie anziehen und machen, was sie wollte“, sagt | |
| Akbar. | |
| Leider werde dieser Abschnitt der Landesgeschichte von Narrativen über ein | |
| rückständiges Kämpfervolk verdrängt, manche Medien fragten nur nach den | |
| letzten 20 Jahren, als gebe es Afghanistan erst seit Beginn des | |
| [3][Nato-Einsatzes, der gerade dieses Jahr abgebrochen wurde]. „Es geht | |
| doch um ganz normale Dinge: Freiheit, die Möglichkeit, selbst zu | |
| entscheiden. Das möchten Frauen in einem abgelegenen Dorf genauso wie ich“, | |
| sagt sie. | |
| Bereits zum dritten Mal hat Akbar zum diesjährigen internationalen | |
| Frauentag eine Ausstellung ausgearbeitet und kuratiert: „Abarzanan“ – | |
| Superfrauen – lautet der Titel der Reihe. Sie möchte damit Vorurteile über | |
| afghanische Frauen bekämpfen. Dieses Jahr widmete sie die Ausstellung | |
| ermordeten Frauenrechtlerinnen. Erst letztes Jahr wurde eine ihrer | |
| Freundinnen Opfer eines gezielten Anschlags. „Sie hat dafür posthum eine | |
| Tapferkeitsmedaille erhalten“, sagt sie und lacht bitter. Denn aufgeklärt | |
| worden sei der Mord nie: „Sie war erst 24 und so voller Leben. Sie hatte | |
| große Träume, wollte einmal Premierministerin werden oder etwas in der | |
| Art.“ Nun sei es an ihr zu verhindern, dass Frauen wie ihre Freundin | |
| einfach vergessen würden. | |
| Auch der 23-jährige Asghar lässt sich nicht abschrecken. Bereits mit 18 | |
| Jahren hat er den Fahrradclub Drop and Ride gegründet. Den findet man | |
| allerdings nur mithilfe der GPS-Daten, die Mehrzada persönlich per Whatsapp | |
| verschickt. Vom Treffpunkt an einer staubigen Straße geht es zu einem | |
| schmalen dunklen Durchgang zwischen zwei Häusern, einige Stufen in die | |
| Tiefe und nach einem großen Gittertor in eine kunterbunte Turnhalle. Die | |
| jungen Frauen und Männer, die ihm eben noch leise und eilig gefolgt sind, | |
| bauen in Windeseile einen Parcours mit Hindernissen und Rampen auf. Ihre | |
| Gesichtszüge entspannen sich, ein erstes Lachen ist zu hören, die jungen | |
| Menschen feuern sich gegenseitig bei den Freestyletricks an. „Wir möchten | |
| zeigen, dass das etwas ganz Normales ist, wenn Jungs und Mädchen etwas | |
| zusammen unternehmen“, erklärt Mehrzada. | |
| ## Der Traum von freier Berufswahl | |
| Das gilt in Afghanistan als Affront gegen ungeschriebene Gesetze und kann | |
| nicht nur wegen der Bombenanschläge, die in Kabul zum Alltag gehören, | |
| tödlich enden. Eine Bombe explodierte schon direkt hinter den RadlerInnen, | |
| als sie eine Tour machten. „Es war so nah, dass unsere Hinterreifen | |
| platzten“, erinnert sich der Clubgründer. Verletzt worden sei | |
| glücklicherweise niemand. Das Vorrücken der Taliban erhöhe die Gefahr für | |
| das Projekt. Mehrzada fasst sich ins glatt rasierte Gesicht und sagt: | |
| „Schon mein Aussehen würde mich bei den Taliban in Gefahr bringen.“ Auch | |
| könnten sie gezielt angegriffen werden, wenn jemand Falsches den Treffpunkt | |
| des Clubs herausfinde. | |
| Trotzdem will er weitermachen. „Wenn ich sehe, wie viel Freude andere junge | |
| Menschen hier haben, wie sie einen Traum leben können, gibt mir das Kraft.“ | |
| Auch aus der Bevölkerung erhalte er viel Zuspruch für sein Projekt. Seine | |
| Co-Trainerin, die 18-jährige Zohra, betont, dass auch ihre Eltern voll | |
| hinter dem Club stünden. Sie selbst habe hier erst Radfahren gelernt. Azer | |
| sieht in ihrem Engagement für Drop and Ride einen wichtigen Beitrag dazu, | |
| ihren größten Wunsch zu erfüllen: „Ich möchte frei sein.“ Damit meine s… | |
| nicht das Tuch, das ihren Kopf bedeckt und das sie während des Gesprächs | |
| sorgsam unter dem Fahrradhelm zurechtzupft. „Ich möchte, dass Frauen selbst | |
| entscheiden können, was sie studieren oder arbeiten oder generell tun | |
| möchten.“ | |
| Für afghanische Frauen ist etwa die Berufswahl nicht nur im Talibangebiet | |
| eingeschränkt. Auch die Eltern machen ihren Töchtern Vorschriften – | |
| manchmal weil sie fürchten, die Tochter könne sich in Gefahr bringen. Das | |
| schildert Niloufar Mohammadi, die im Abschlusssemester Journalismus an der | |
| Kabuler Universität studiert. „Ich halte Journalistinnen in diesem Land für | |
| Heldinnen“, sagt sie. Journalistinnen würden oft Opfer gezielter Angriffe. | |
| „Ich wollte eigentlich für das Fernsehen arbeiten, aber meine Eltern | |
| erlauben es nicht.“ | |
| Ihr Kommilitone Esahnullah Attiq, der neben ihr ist, setzt sich auch | |
| deshalb für eine Gesellschaft ein, in der junge Menschen mehr Chancen | |
| haben. Er arbeitet gerade an der Gründung eines Peacebuildingclubs an der | |
| Journalismusfakultät: „Die Medien haben eine große Verantwortung und | |
| sollten ihren Beitrag zur Friedensentwicklung leisten.“ Im November 2020 | |
| war ein Anschlag auf ebendiese Universität verübt worden, 35 Menschen | |
| starben, mehr als doppelt so viele wurden verletzt. „Unser Fachbereich war | |
| der erste, der danach weitergemacht hat. Unsere Dozenten haben gesagt, dass | |
| es mehr Sicherheitskräfte an den Eingängen geben wird, aber da blieb | |
| trotzdem diese Unsicherheit, wenn wir das Gebäude betreten“, schildert er. | |
| Nach einer kleinen Pause sagt er mit dem Blick auf seine Kommilitoninnen am | |
| Nebentisch: „Eigentlich haben wir Glück, jetzt hier zu sitzen und noch am | |
| Leben zu sein.“ | |
| ## Hoffnung auf eine neue Generation | |
| Das Treffen mit den beiden findet in einem Fast-Food-Restaurant im belebten | |
| Stadtteil Schareh Naw statt, Attiq muss gegen das Brummen mehrerer | |
| Generatoren ansprechen. Wie oft in den vergangenen Tagen ist auch jetzt der | |
| Strom ausgefallen. Immer wieder werden Strommasten gesprengt, mal als Akt | |
| des Terrors, mal um Geld von der Regierung zu erpressen. | |
| Er habe Freunde im Ausland, die immer dann, wenn er die Situation im Land | |
| schildere, sagen: „Verlass doch das Land, es ist nicht sicher.“ Er entgegne | |
| ihnen dann, dass er bleiben müsse. „Es ist doch wichtig, dass gerade | |
| gebildete junge Leute hier bleiben, um das Land aufzubauen. Menschen, die | |
| sich für den Frieden einsetzen.“ | |
| Doch Attiq fühlt sich auch seiner eigenen Familie verpflichtet. In Kabul | |
| finde man kaum noch eine Arbeit, wenn man nicht mindestens einen | |
| Bachelorabschluss habe. „Ich muss für meine Familie Geld verdienen. Ich | |
| habe fünf Geschwister und nur meine Eltern haben derzeit Jobs.“ Attiqs | |
| Eltern hatten das Glück, eine kurze Zeit des Friedens in Afghanistan | |
| mitzuerleben. „Sie erzählen manchmal, wie Kabul früher war“, sagt Attiq. … | |
| selbst möchte jungen Menschen etwas beibringen und nach dem Studium Dozent | |
| werden. „Es gibt hier eine ganz tolle junge Generation, die etwas erreichen | |
| möchte für dieses Land.“ Er glaube daran, dass sie gemeinsam etwas | |
| verändern könnten, und fügt ein „Inshallah“ – so Gott will – hinzu. | |
| 25 Jul 2021 | |
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| Lena Reiner | |
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