| # taz.de -- Performance im Berliner Gorki Theater: Keine Auswege in Sicht | |
| > Szenisch ambitionierter Versuch eines postpandemischen Theaters: Oliver | |
| > Frljić inszeniert „Alles außer Kontrolle“ am Berliner Gorki Theater. | |
| Bild: Maryam Abu Khaled und Emre Aksızoğlu in einer Szene aus „Alles unter … | |
| Die Ankündigung klingt großspurig: Das postpandemische Theater wolle | |
| Regisseur und Autor Oliver Frljic mit der im ganzen Gebäude des Berliner | |
| Gorki Theaters angesiedelten Performance „Alles unter Kontrolle“ schaffen. | |
| Zumindest formal wird Frljić dem Anspruch gerecht. Der Schauraum Theater | |
| wird umgebaut. Eine echte vierte Wand wird aus den seit Monaten bekannten | |
| transparenten Plastikelementen aufgebaut (Bühnenbildner: Igor Pauska). Der | |
| Spuckschutz schafft gläserne Cubes, innen die Performer*innen, draußen | |
| herum das auf Kleinstgruppen aufgeteilte Publikum. | |
| Diese Blickorganisation verändert die Theatermaschine, betont deren | |
| Ausstellungscharakter. Die da drinnen werden zu Objekten, die, die draußen | |
| sind, dürfen diese untersuchen, besser gesagt: Sie werden dazu gezwungen. | |
| Im Unterschied zur Vitrine im naturkundlichen Museum leben die hier | |
| präsentierten Exemplare noch. Mehr Zoo also als Naturkundemuseum. Aquarium | |
| vielleicht, Aquarium ohne Wasser. | |
| Das Arrangement kann man auch als Zuspitzung des | |
| Panopticon-Gefängniskonzepts des Briten Jeremy Bentham deuten oder sich an | |
| Flüchtlingslager erinnert fühlen, durch die – gelegentlich wohlmeinende – | |
| Delegationen von Menschen geschickt werden. Die gehen mit dem Leid der da | |
| drinnen meist irgendwie professionell um, vor allem aber können sie sich | |
| allein durch die Art der Blickorganisation ihrer eigenen wirtschaftlichen | |
| und politischen Überlegenheit versichern. | |
| Die Akteur*innen innerhalb der gläsernen Kästen spielen, was das Gorki | |
| Theater sich in den Spielzeiten von [1][Intendantin Shermin Langhoff] als | |
| zu Spielendes auf die Fahne geschrieben hat. Um Identitäten geht es, um | |
| Geschlechterverhältnisse, um Rassismen, um Migration. | |
| Eigene Haltung gefragt | |
| [2][Das sind auch Frljić’ Themen]. Das Angenehme an diesem kroatischen | |
| Regisseur, der in jenem Bosnien geboren wurde, das damals noch Teil von | |
| Jugoslawien war, ist, dass er nicht in jeder Szene auch seine eigene | |
| Haltung ausschwitzen muss. Frljić nimmt die Themen in den Blick, packt sie | |
| in diese transparente Box, lässt seine Spieler*innen damit umgehen und | |
| überlässt die Haltungsfragen ganz dem Publikum. Das dürfte also, geprägt | |
| durch die je eigene politische und auch ästhetische Voreinstellung, sehr | |
| unterschiedliche Performances sehen. | |
| Das ist schon mal was für dieses Theater, das sich oft in seiner | |
| Thesenhaftigkeit gefällt. Als Schlüsselszene entpuppt sich jene, in der die | |
| palästinensische Schauspielerin Maryam Abu Khaled sich im Verhör durch | |
| einen Abgesandten einer nicht näher definierten Theaterpolizei des | |
| Verbrechens der Nichtrepräsentation verantworten muss. Sie spiele sich | |
| selbst, wird ihr vorgeworfen. Und tatsächlich sind Bruchstücke der eigenen | |
| Biografie Teile der Rolle. Es geht um das Freedom Theatre im Lager | |
| Dschenin, in dem sie lange mitspielte, und um die weiterhin nicht | |
| aufgeklärte Ermordung von dessen Gründer Juliano Mer-Khamis. Der | |
| Ex-Fallschirmjäger der israelischen Armee war Sohn einer früheren | |
| zionistischen Elitesoldatin und späteren Kommunistin und eines | |
| arabisch-israelischen Kommunisten – und damit schon qua Herkunft ganz | |
| schwer in irgendwelche Identitätsschubladen zu pressen. Abu Khaled | |
| beschäftigte sich sich auch in dem auf der Berlinale präsentierten Film | |
| „Art/Violence“ mit der Ermordung Mer-Khamis’. | |
| Das theaterpolizeiliche Verhör, dem sie wegen ihres Selbstseins auf der | |
| Bühne ausgesetzt ist, reflektiert einerseits die Vorwürfe an das Theater, | |
| nur eine Art Repräsentationszoo von Minoritäten zu sein. Es bezieht sich | |
| zugleich auf das Anliegen des Gorki, auf die Kluft zwischen der diverser | |
| gewordenen Gesellschaft und dem immer noch recht weißen, feudal-machistisch | |
| durchsetzten Stadt- und Staatstheaterapparat hinzuweisen und diese Kluft | |
| durch eigenes Tun auch zu verkleinern. | |
| Außerdem spielt die Szene auf [3][die öffentliche Debatte, in Teilen auch | |
| schon öffentliche Verurteilung von Kommunikations- und Arbeitsweisen der | |
| Intendantin Shermin Langhoff an]. Und nicht zuletzt befindet man sich in | |
| einer Art Kontrollraum des Theaters. Verhörende und Verhörender (Emre | |
| Aksızoğlu) tragen Monitore auf dem Rücken, die Szenen aus anderen Räumen | |
| der Performance zeigen – Szenen, die man vorher schon gesehen hat und denen | |
| aktuell neues Publikum ausgesetzt ist, sowie Szenen, die man selbst später | |
| oder vielleicht auch nie sehen wird. | |
| Nur Bruchstücke | |
| 30 Szenen stehen auf dem Programmblatt, selbst hat man in den 70 Minuten | |
| Vorstellung nur Zeit für sechs bis sieben davon. Die Kontrolle ist also | |
| nicht total. Nur Bruchstücke sind zu sehen. Nein, noch eine Volte: Mit | |
| seiner vorab publizierten Szenenfolge erzeugt Frljić die Fiktion der | |
| Bruchstückhaftigkeit. Zu sehen bekommt man wahrscheinlich doch alle. | |
| Die Verhörsituation wird am Ende noch umgedreht. Aksızoğlu nimmt die Rolle | |
| Abu Khaleds an, die ihrerseits zur Befragerin wird – Freispruch vom Vorwurf | |
| des Selbstseins auf der Bühne also. | |
| „Alles außer Kontrolle“ ist ein szenisch ambitionierter Versuch, | |
| vorpandemische wie auch durch die Pandemie zugespitzte Machtkonstellationen | |
| aufzuzeigen. Auswege sind nicht in Sicht. Spürbar wird vor allem das | |
| Unbehagen am Wollen, alles in den Griff zu kriegen, und jedem und jeder den | |
| adäquaten Platz im Repräsentations- und Seinsspektakel zuzuweisen. | |
| 18 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Rechtsstreit-am-Gorki-Theater-Berlin/!5770388 | |
| [2] /Pseudo-Selbstkritik-am-Gorki-Theater/!5492301 | |
| [3] /Machtmissbrauch-am-Theater/!5772533 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
| ## TAGS | |
| Maxim Gorki Theater | |
| Theater Berlin | |
| Theater | |
| Ausbeutung | |
| Theater Berlin | |
| Theater | |
| Theater Bremen | |
| Theater der Welt | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Theater | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Theaterstück zum Kölner Dom: Totentanz mit Überlebenden | |
| In Oliver Frljićs Kirchenkritik geht es um den Bau des Kölner Doms. Das | |
| Stück im Schauspiel Köln ist eine grandios illustrierte Geschichtsstunde. | |
| Performance aus der Vogelperspektive: Eine ornithologische Reise | |
| Die Performance „Schwarm“ im Revier Südost betrachtet die Welt von oben. | |
| Dabei kommen Themen wie Migration und Umweltsünden in den Blick. | |
| Gerichtsdrama über Abschiebung: Das Gesetz und die Realität | |
| Im tak Theater in Berlin ist ein großartiges Stück über Abschiebung | |
| entstanden, das Entscheidungsspielräume im deutschen Asylrecht ausleuchtet. | |
| Premiere am Theater Bremen: Skizze eines Paradieses | |
| Am Theater Bremen wurde Akın Emanuel Şipals neues Stück uraufgeführt. | |
| „Mutter Vater Land“ ist eine gesättigte Autofiktion von großer Poesie. | |
| „Theater der Welt“ live in Düsseldorf: „Es braucht emotionale Erlebnisse… | |
| In Düsseldorf startet das Festival „Theater der Welt“. Programmdirektor | |
| Stefan Schmidtke über die Planung in Coronazeiten – und das Reisen der | |
| Künstler:innen. | |
| Carmen Jeß' Stück „Klang des Regens“: Der Fisch auf dem Kopf | |
| Zwei Frauen ringen vor der Folie rassistisch motivierter Verbrechen um | |
| generationenübergreifende Verständigung. Eine Theaterpremiere in Augsburg. | |
| Frank Castorf inszeniert Erich Kästner: Wer seine Seele verkauft | |
| Frank Castorfs Inszenierung von Erich Kästners „Fabian“ am Berliner | |
| Ensemble ist düster. Genauer: eine dunkle Version der wilden Zwanziger. |