# taz.de -- Theaterstück zum Kölner Dom: Totentanz mit Überlebenden | |
> In Oliver Frljićs Kirchenkritik geht es um den Bau des Kölner Doms. Das | |
> Stück im Schauspiel Köln ist eine grandios illustrierte Geschichtsstunde. | |
Bild: Totenköpfe und goldene Bischofsmützen werden zum Ornament | |
632 Jahre dauerte der Bau des Kölner Doms, aber interessiert das heute noch | |
irgendjemanden außerhalb von Köln und den Touristenmassen, die sich vor | |
Corona durch ihn hindurchwälzten? Die gewaltige, dunkle Kirche am Kölner | |
Hauptbahnhof ist ein hübsches Werbesymbol, die zwei Türme lassen sich gut | |
als Label verwerten. | |
Und doch hat ausgerechnet der [1][Regisseur Oliver Frljić] – gegen dessen | |
Arbeiten schon die katholische Kirche in Kroatien und Polen protestierte | |
und der gerne mit saftigen Skandalbildern, Blut und Bombast arbeitet – sich | |
Kölns Ursymbols, einem Herzstücks der katholischen Kirche, angenommen. | |
Natürlich wird es mehr als ein bunter Abend mit viel Lokalkolorit. Es kommt | |
eine grundlegende Auseinandersetzung mit katholischer Kirche und | |
Kapitalismus. | |
Ton und Perspektive werden von der Schauspielerin Nicola Gründel gelegt, | |
die mit dem Brecht-Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ trocken fragt: | |
„In den Büchern stehen die Namen von Königen – haben denn die Könige die | |
Felsblöcke herbeigeschleppt?“ Geschichte fand eben immer auf dem Rücken der | |
geschundenen Massen statt, wurde aber stets von den Mächtigen vereinnahmt. | |
Dann sehen wir sie auch schon, in golden schimmernden Talaren: die | |
Kirchenmänner, die im Jahr 1248 den Baubeginn des Monumentalmonsters unter | |
sich ausmachten. Dass die Baustelle auf den Knochen ihrer Sklavenarbeiter | |
ruht, nutzt Oliver Frljić für einen bildgewaltigen, kreiselnden Totentanz | |
aus echten Knochen – die sich zum Schluss auftürmen zu einer monströsen | |
Skulptur. | |
## Die Armen, die Pest, die Juden | |
Zur Rechtfertigung des wahnsinnigen Dombaus sehen wir, wie Schauspieler | |
Yuri Englert als Erzbischof Rainald von Dassel völlig zufällig die | |
Dreikönigsreliquien aus einem Schädelhaufen aussucht und nach Köln | |
transportieren lässt und den opferreichen Bau zum roten Faden einer | |
neoliberalen Erzählung verdreht: Damit die Armen auch einen Platz an Gottes | |
Tisch bekommen, müssen die Reichen eben den „Vortritt haben“. | |
Der Abend ist eine Kompilation aus historischen Zitaten. Wir sehen auf der | |
Bühne, wie Arme als Leichen auf Pestwägen abtransportiert werden, am Tisch | |
sitzend rhythmisch letzten Knochen abschaben, während die schimmernden | |
Bischöfe in der Zeit der großen Pest präfaschistoid die ersten großen | |
Judenpogrome ausrufen. | |
Immer wieder intoniert das Ensemble grandiose Choräle vor einer | |
kathedralenartigen Kulisse und schleift dabei, in Kapuzenkutten, rhythmisch | |
die Sensen, die sich später in Mini-Galgen mit brennenden Puppen dran | |
verwandeln. | |
## Grausamkeit in bombastischen Bildern | |
Regisseur Oliver Frljić konnte schon immer Elend und Grausamkeit in | |
bombastischen Bildern fassen. In rasender Geschwindigkeit geht es durch die | |
Jahrhunderte des stagnierenden Dombaus, bis zur Ankunft von Napoleon, als | |
endlich der Kunsthistoriker Sulpice Boisserée die Ruine als | |
nationaldeutsches Symbol entdeckt, als „Monument der Wiedergeburt | |
Deutschlands“ und den Weiterbau antreibt. | |
Weiter geht es in schnell wechselnden Episoden, gewürzt mit Kalauern, aber | |
auch theologischen Debatten. Wir sehen den Kulturkampf von preußischem | |
Staat und Kirche über gemischte Ehen – ein überdrehter Bismarck mit | |
Pickelhaube trifft auf einen liberal verwirrten Bischof. Dann stellen sich | |
die Schauspieler in grau bedruckten Anzügen auch noch als stolze Kölner | |
Domglocken im Zweiten Weltkrieg einzeln vor und erzählen, wie sie nur mit | |
knapper Not vor der Umschmelzung in Kriegsmunition bewahrt wurden. | |
So weit, so beeindruckend: Eine grandios illustrierte Geschichtsstunde und | |
Kirchenkritik hat Oliver Frljić hier inszeniert – und bricht sie dann | |
überraschend: Schauspieler Andreas Grötzinger wird zum britischen | |
Bomberpiloten „Divel Sheepsplit“, der in einer der verheerenden | |
Bombennächte 1943 über den Dom flog, von den karmesinrot erleuchteten | |
Wänden erzählt – aber auch von den Fabriken, die er in Schutt und Asche | |
legte, unter anderem die Kabelfabrik, in der das Kölner Schauspiel | |
untergebracht ist. | |
## Gefundene Geschichten | |
Als Rentner trat der ehemalige Pilot dann auf den Intendanten Stefan | |
Bachmann zu mit einem „Stück über den Kölner Dom“, das nun zum Teil des | |
Abends geworden ist und charmant darauf verweist, dass Theater eben doch | |
Teil von Geschichtsschreibung sein kann. | |
Dann kommt die letzte Viertelstunde und sprengt den Rahmen in ganz anderer | |
Weise, macht ihn zu nichts weniger als zu einem Lehrstück über Kraft und | |
Potenzial von Theater. Denn auf die Bühne kommt nun ein echter | |
[2][Überlebender der katholischen Kirche: Karl Hauke], Experte seiner | |
eigenen Missbrauchsgeschichte, erzählt in diskreten Bildern, wie die | |
Verbrechen eines Priesters ihm Beziehungen, Bildung, Glauben und | |
Orientierung, sprich: das ganze Leben zerstörten. | |
Er erzählt das so klug und zurückgenommen, assoziationsmächtig und | |
verdichtet, dass die Wucht seiner Worte umso verstörender wirkt und sich im | |
eigenen Kopf entfaltet. Die Stille ist greifbar und zeigt, was Theater auch | |
sein kann: ein direkter, kollektiver Raum für Empathie. | |
22 Dec 2021 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Dorothea Marcus | |
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