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# taz.de -- Katholische Kirche Frankreich: Missbrauchsskandal in der Kirche
> Laut einem Bericht über Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche
> wurden ca. 330.000 Minderjährige Opfer von sexualisierter Gewalt.
Bild: In Frankreich wurden ca. 330.000 Kinder Opfer sexualisierter Gewalt in de…
Paris taz | Statt mit den erdrückenden Zahlen begann Jean-Marc Sauvé die
Präsentation seines Berichts über Kindesmissbrauch in der katholischen
Kirche Frankreichs mit einem Brief. „Danke, dass Sie bereit waren, diese
schmutzige Arbeit zu machen. Ich ermesse, wie destabilisierend und
entmutigend sie war“, zitierte der 72-Jährige einen anonymen Schreiber. Die
Zahlen, die Sauvé am Dienstag vorlegte, sind in der Tat ein Erdbeben für
Frankreichs Katholikinnen und Katholiken: 216.000 Kinder wurden den
Schätzungen unabhängiger Experten zufolge in den vergangenen 70 Jahren
Opfer von Missbrauch durch Priester und Ordensleute. Auf 330.000 Opfer
steigt die Zahl, wenn Laien, beispielsweise in Schulen oder Ferienlagern,
als Täter mit eingerechnet werden. Mehr als 80 Prozent der missbrauchten
Kinder waren Jungen – die meisten davon im Alter zwischen 10 und 13 Jahren.
„Diese Zahlen sind mehr als besorgniserregend. Sie sind erdrückend und
dürfen nicht ohne Konsequenzen bleiben“, mahnte Sauvé, selbst
praktizierender Katholik. Das Ausmaß des Kindesmissbrauchs übertraf seine
eigenen Befürchtungen: Noch zu Jahresanfang war der pensionierte
Vize-Präsident des Staatsrats von rund 10.000 Opfern ausgegangen. Der
katholischen Kirche warf er vor, ein System aus Nachlässigkeit, Fehlern und
Schweigen errichtet zu haben. „Die Kommission ist zu einem einstimmigen
Schluss gekommen: Die Kirche wollte nicht sehen, nicht verstehen, die
schwachen Signale nicht empfangen.“
Kühl rechnete Sauvé vor, dass die Gefahr, Missbrauchsopfer zu werden, in
katholischen Einrichtungen zweimal höher war als beispielsweise im
Sportverein oder einer staatlichen Schule. „Die katholische Kirche ist
neben dem Familien- und Freundeskreis das Milieu, wo die sexuelle Gewalt am
höchsten ist.“ Sauvé empfahl deshalb, dass die katholische Kirche jedes
einzelne Opfer finanziell entschädigen müsse. „Das ist kein Geschenk,
sondern eine Pflicht.“ Außerdem müsse sie Laien in ihre
Entscheidungsstrukturen mit einbeziehen. Auch die Priesterausbildung müsse
reformiert werden. François Devaux, eines der Opfer, forderte die Kirche
auf, „für diese Verbrechen zu bezahlen“.
Die katholischen Bischöfe hatten bereits im Frühjahr ein System
finanzieller Entschädigung angekündigt, das sich allerdings aus den Spenden
der Gläubigen speisen soll. Anders als in Deutschland gibt es im
laizistischen Frankreich keine Kirchensteuer.
## 485 Seiten Bericht
Ähnlich wie in anderen Ländern wurde die sexuelle Gewalt der Priester in
Frankreich verschwiegen, bis die ersten Skandale in den USA und Irland ans
Licht kamen. Seinen eigenen Skandal erlebte das Land 2016 mit dem Fall des
Erzbischofs von Lyon, Philippe Barbarin. Dem Kirchenmann wurde vorgeworfen,
jahrelang den Priester Bernard Preynat gedeckt zu haben, der sich an
Dutzenden Pfadfindern verging. Der Missbrauch lieferte dem Regisseur
François Ozon die Vorlage für seinen Film „Grâce à Dieu“. Barbarin wurd…
vergangenen Jahr in zweiter Instanz freigesprochen, gab aber sein Amt auf
und zog sich zurück.
Vor zweieinhalb Jahren beschlossen die französischen Bischöfe, eine
unabhängige Kommission einzusetzen, die den Kindesmissbrauch aufarbeitet.
Drei Millionen Euro gaben die Bischofskonferenz und die Vereinigung der
Ordensleute für diese Arbeit aus, die in ihrem Ausmaß die Aufarbeitung in
anderen Ländern deutlich übersteigt. Mithilfe der Organisation France
victimes befragte eine unabhängige Kommission unter dem Vorsitz von Sauvé
mehr als 6.500 Opfer. Außerdem nutzten die 22 Kommissionsmitglieder,
darunter Juristen, Psychiater, Anthropologinnen, Theologinnen und
Soziologinnen, die Kirchenarchive und forschten in Justiz- und
Polizeidokumenten sowie alten Zeitungen. Heraus kam ein 485 Seiten langer
Bericht mit 2.000 Seiten Anhang, der die sexuelle Gewalt gegen die Kinder
dokumentiert – begangen von rund 3.000 Priestern und Ordensleuten.
„Ich war schockiert“, beschreibt die Generalsekretärin der Kommission,
Sylvette Toche, die Auswertung von Tausenden Mails, die sie von Opfern
erhielt. „Die Personen wurden sexuell angegriffen, sprachen in ihrer
Familie, der Kirche, mit Honoratioren darüber und keiner glaubte ihnen“,
sagte Toche der Zeitung La Croix. Jahrzehntelang herrschte eine „grausame
Gleichgültigkeit“, die sich erst durch den Fall Barbarin änderte.
Der Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz, Eric de
Moulins-Beaufort, bat die Opfer um Vergebung. „Ich drücke meine Scham aus,
mein Entsetzen, meine Entschlossenheit zu handeln.“ Die Reaktion auf den
Bericht bleibt allerdings den einzelnen Bischöfen in ihren Diözesen
überlassen. Einige hatten ihre Gläubigen vor Veröffentlichung des Dokuments
vor den Schockwirkungen gewarnt – andere blieben stumm.
5 Oct 2021
## AUTOREN
Christine Longin
## TAGS
Katholische Kirche
Kindesmissbrauch
Schwerpunkt Frankreich
Vatikan
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