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# taz.de -- Premiere am Theater Bremen: Skizze eines Paradieses
> Am Theater Bremen wurde Akın Emanuel Şipals neues Stück uraufgeführt.
> „Mutter Vater Land“ ist eine gesättigte Autofiktion von großer Poesie.
Bild: Szene aus „Mutter Vater Land“ am Theater Bremen
Ziellos zu sein, gilt als Makel, leider. Denn Akın Emanuel Şipals neues
Stück „Mutter Vater Land“, das am vergangenen Donnerstag am Bremer Theater
in der Regie von Frank Abt [1][endlich] Uraufführung feierte, hat kein
Ziel, außer auf die Bühne zu kommen. Und das ist seine große Stärke und
Qualität. Sein Anfang ist sein Ende. Der Text bewegt sich mal vor- mal
rückwärts in der Chronologie: Die Geister einer möglichen Zukunft greifen
in die Handlung ein. Die Figuren der Vergangenheit, die einst verschwunden
sein werden, erscheinen leibhaftig.
Viele sind zudem die Darsteller*innen des Ich, des „Alter Ego“, das im
Zentrum des Werks steht. Die Rolle teilen sich Jan Grosfeld und Matti
Weber, zwei Schauspieler, und die umwerfende Nihan Devecioğlu. Mit ihrer am
Mozarteum klassisch ausgebildeten Stimme macht die Sängerin die
differenzierten Skalen türkischer Melodik im rezitativisch performten
Prolog zu einer echten Erfahrung. Fast hat sie etwas von Gewalt, so hilflos
ausgeliefert ist man ihrer sehnsüchtigen Schönheit.
Das Stück ist ein lyrisches Drama, also weniger Bert Brecht, mehr Hugo von
Hofmannsthal – und [2][noch mehr Gertrude Stein]: Konflikte, kann sein,
dass es die gibt, Lösungen, zur Not auch. Aber das Interesse liegt nicht
darin, sie durchzuspielen. Es geht darum, einen Ort zu erzeugen, der Hier
ist und der Jetzt ist, und in dem Handeln denkbar wird: ein begehbares
Bewusstsein seines Urhebers.
Susanne Schuboth hat das ins Bühnenschwarz als abstrakten viergeteilten
Garten aus Holzstegen gebaut. Sie münden mittig in eine achteckige
Plattform: ein skizziertes Paradies. Links steht eine Telefonzelle, ein
Symbol fürs Wanne-Eickel der 1950er, das im Inneren sicher nach kaltem
Tabak riecht. Und im Hintergrund, weit über allen, hockt, an der Wand, mit
Studierstubenlampe der Großvater in seinem per Eisenleiter erreichbaren
Gehäus. Siegfried W. Maschek spielt, mit ans Bösartige grenzender
Kauzigkeit den Opa als einen Übervater, Romancier und Übersetzer,
bewundertes Vorbild.
Deutsch-türkische Fernbeziehung
Er hatte, erfährt man, nach seiner Germanistik-Promotion in Münster
(Westfalen) Oma geheiratet. Die Ehe verkümmert sehr bald zur bloß
telefonisch gepflegten deutsch-türkischen Fernbeziehung. Oma ist in Polen
geboren, lebt im Ruhrpott und legt Wert darauf, Schlesierin zu sein. Von
Türken, das macht Irene Kleinschmidt in schroffer Wurstigkeit klar, hält
sie wenig. Ihrem Sohn verbietet sie, die Nationalität seines Vaters in der
Schule zu verraten.
Ist das nur Rassismus? Oder auch Klugheit? Als er’s doch einmal getan hat,
ist der Junge jedenfalls mit blutiger Nase heimgekommen. Niemand kann wohl
blitzartiger vom knatschigen Kind in die Rolle eines biederen Vaters
switchen als Matthieu Svetchine: Gleich drauf schon muss er Erwachsener
sein und seinem pubertierenden Sprössling, also einem der Alter Egos, mit
bescheuerten Lebensweisheiten erst ins Gewissen reden, um ihn dann
anzuschreien und unter Stubenarrest zu stellen: „In dein Zimmer mit dir.“
Nacherzählt mögen diese Figuren und ihre Verwicklungen wirken, wie
konstruiert für ein Lehrstück mit der berechtigten Botschaft, dass
deutsch-türkische Beziehungen mehr Dimensionen als das
Gastarbeiter-Narrativ beinhaltet. Aber das sind sie nicht: Ihre Komplexität
ist gerade eher Spur der Wirklichkeit.
Was hier gespielt wird, ist eine familiengeschichtlich gesättigte
Autofiktion. Akın Emanuel Şipals Vater ist in Wanne-Eickel geborener
Turko-Deutscher. Seine Mutter ist als Kind von Istanbul mit ihren Eltern,
Arbeitsmigrant*innen, nach Gelsenkirchen gezogen. Und auch ist der
Dramatiker wirklich Enkel von Kâmuran Şipal, dessen Opus magnum, der
gefeierte Roman „[3][Sırrımsın Sırdaşımsın]“, sich jeder Übertragung
sperrt. Er gilt als wichtigster Übersetzer moderner deutschsprachiger
Literatur ins Türkische. Als er 2019 starb, [4][so hat Akın Şipal der taz
erzählt], hat er trotzdem „noch nicht einmal einen Nachruf bekommen, in
Deutschland. Es hat hier keiner Notiz davon genommen.“
Die Kränkungen. Und die Aggressionen, die sie erzeugen, bis sie in irre
Fantasien abschweifen von im Irrealis herumtollenden Tataren und einem
Blutbad – diese Kränkungen sind real. Eigene Wunden zu zeigen ist kein
Egotrip: Indem er sie ausstellt, macht sich Şipal in ihnen erneut
verletzlich. Auf der Bühne aber ist es möglich, dass Erfahrung die Grenzen
der Person übersteigt. Sie wird kollektiv. Die Verletzungen gemeinsam zu
spüren erlaubt, auf Zukunft zu hoffen: „Vater Mutter Land“ ist ein
wichtiges Stück, ein berührendes – und poetisch ist es auch.
21 Jun 2021
## LINKS
[1] https://www.logbuch-suhrkamp.de/akin-sipal/verschuettete-geschichten-proble…
[2] https://read.dukeupress.edu/theater/article-abstract/25/1/44/23631/Play-as-…
[3] https://tr.wikipedia.org/wiki/S%C4%B1rr%C4%B1ms%C4%B1n_S%C4%B1rda%C5%9F%C4%…
[4] /Autor-ueber-tuerkisch-deutsche-Beziehung/!5727960
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
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Theater Bremen
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Rache
Maxim Gorki Theater
Theater der Welt
Schwerpunkt Rassismus
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