| # taz.de -- Pastor Wilm über fünf Jahre Lampedusa in Hamburg: „Das hat die … | |
| > Sieghard Wilm, Pastor auf St. Pauli, nahm viele aus der Lampedusa-Gruppe | |
| > in seiner Kirche auf. Nun hat einer von ihnen Frau und Kind getötet. | |
| Bild: Offene Türen: Pastor Siedhard Wilm von der Kirchengemeinde St. Pauli | |
| taz: Herr Wilm, was sagen Sie den Leuten, die Sie als Mörder beschimpfen, | |
| weil einer Ihrer Gäste aus der Lampedusa-Gruppe Frau und Kind erstochen | |
| hat? | |
| Sieghard Wilm: Es ist unsachlich. Es ist im Ton eines Populismus, der Dinge | |
| verzerrt und der versucht, Hass zu säen. | |
| Wie gehen Sie mit dem Druck um, der dadurch entsteht? | |
| Ich spüre den aktuell nicht. So etwas kommt ja in Wellen. Irgendwann suchen | |
| sich die Leute ein anderes Thema und andere Opfer – nur dass ich mich nicht | |
| zum Opfer machen lasse. | |
| Haben Sie es je bereut, Mortula M. als Mitglied der Gruppe „Lampedusa in | |
| Hamburg“ in Ihrer Kirche aufgenommen zu haben? | |
| Das ist schon eine viel zu verengte Frage. Wir hatten am 2. Juni 2013 | |
| schlichtweg Menschen vor der Tür, die durchnässt und auch krank waren. Wir | |
| haben spontan und völlig unvorbereitet die Kirche geöffnet und sind dadurch | |
| in die Solidarität mit der Lampedusa-Gruppe gekommen. Dass einer von denen | |
| fünf Jahre später etwas moralisch Verwerfliches tut, mindert überhaupt | |
| nicht den humanitären Charakter dieser Aktion. | |
| Wie diskutieren das die Lampedusa-Männer untereinander? | |
| Sie sind sehr betroffen. Es ist eine große Aufgabe für mich als Seelsorger, | |
| ihnen zuzuhören, ihnen zu helfen, diesen Schmerz, diese Enttäuschung, auch | |
| diese Ohnmacht auszuhalten. Sie haben seitdem ja selber mit Diskriminierung | |
| zu tun. Sie werden am Arbeitsplatz angesprochen: Gehörst Du nicht auch zur | |
| Lampedusa-Gruppe? Lampedusa war einmal ein Name, der 15.000 Menschen aus | |
| Solidarität auf die Straße brachte. Heute scheint dieser Name verbraucht zu | |
| sein. | |
| Wie haben Sie den Vorfall seelsorgerisch begleitet? | |
| Wir sind mit allen zum Tatort gegangen, haben einen Halbkreis gebildet, | |
| Blumen niedergelegt und eine Schweigeminute abgehalten, weil das für den | |
| Trauerprozess sehr wichtig war. | |
| Fiel Mortula M. auf in der Gruppe? | |
| Nein. Wir haben damals für insgesamt 200 Flüchtlinge gekocht und zwar über | |
| einen Zeitraum von zwei Jahren. Es ist unmöglich, jede Persönlichkeit zu | |
| kennen. Dazu kommen sprachliche Probleme. Es war ganz schwer, mit ihm zu | |
| kommunizieren. Auch innerhalb der Gruppe war er nicht im Zentrum. Ich kann | |
| als Pastor nicht jedem ganz nah sein. | |
| Gab es schwierige Männer in der Gruppe? | |
| Wenn Ihnen vom Hamburger Senat unterstellt wird, sich illegal im Land | |
| aufzuhalten, dann entsteht eine Drucksituation. Diese Perspektivlosigkeit | |
| macht Menschen nervös und angespannt. Trotzdem haben wir die Streitereien | |
| im Zaum halten können. Wir sahen uns sehr gesegnet und geschützt in dieser | |
| Zeit. Das liegt bestimmt auch daran, dass sich das in einer Kirche | |
| abspielte. Das hat allen Respekt abgefordert, sodass Konflikte, die | |
| auftauchten, gelöst werden konnten. | |
| Wie ging das? | |
| Jeden Morgen setzten wir uns mit den Sprechern der verschiedenen Gruppen | |
| und Übersetzern zusammen. Die Frankophonen waren eher Muslime und aus Mali, | |
| die Anglophonen Christen aus Ghana oder Nigeria. Jeder konnte seine Klage | |
| vorbringen und wir haben versucht, eine Lösung zu finden. Daneben haben wir | |
| uns eine Menge ausgedacht, damit den Leuten nicht die Decke auf den Kopf | |
| fällt. Unter anderem haben wir den FC Lampedusa gegründet. Er existiert | |
| heute noch unter dem Dach des FC St. Pauli. Wir haben auch Ausflüge gemacht | |
| und eine Schmuckwerkstatt eingerichtet. Und wir haben eine Embassy of Hope | |
| eröffnet. | |
| Was ist eine Embassy of Hope? | |
| Als die Flüchtlinge 2013 kamen, war der erste Rat, den wir von einer | |
| Flüchtlingsorganisation bekamen, einen Zaun zu bauen, mindestens drei Meter | |
| hoch, um die Geflüchteten vor denen da draußen zu schützen und die da | |
| draußen vor den Geflüchteten. Wir haben das komplett anders gemacht und das | |
| Gelände offen gehalten. Stattdessen haben wir ein einfaches Partyzelt | |
| aufgebaut und jeden der Geflüchteten zum Ambassador ernannt mit der | |
| Aufgabe, die, die neugierig sind, zu empfangen, ihnen Tee und Kaffee | |
| anzubieten, mit denen ins Gespräch zu kommen über ihre Situation. | |
| Gab es Anfeindungen aus der Nachbarschaft? | |
| Überhaupt nicht. Ich erinnere mich an einen von auswärts, der mit einem | |
| Pappschild kam. Der ist nach kürzester Zeit verschwunden, weil die | |
| türkischen Nachbarn laut protestiert haben. Wir erfuhren im Gegenteil große | |
| Solidarität. Das hat für mich die Qualität eines Wunders: Geflüchtete | |
| kommen und alle machen mit und helfen. | |
| Was haben denn Ihre Gemeindeglieder gesagt zu Ihrer Ad-hoc-Entscheidung, | |
| die Männer aufzunehmen? | |
| So etwas gefällt nicht jedem und irritiert auch einige, aber im Großen und | |
| Ganzen haben wir das gut miteinander getragen. Der Kirchengemeinderat war | |
| in dieser Situation sehr handlungsfähig. | |
| Das heißt, der hat das entschieden? | |
| Eine akute Notmaßnahme kann ich selber entscheiden, aber nicht, dass sie | |
| fortgesetzt wird. Wir haben uns wöchentlich getroffen und immer wieder | |
| geguckt: Geht es? Das hat der Kirchengemeinderat in Beratung mit dem | |
| Kirchenkreis und der Bischöfin entschieden. Wir haben als Kirche gemeinsam | |
| gehandelt auf verschiedenen Ebenen – bis hin zu Landessynode, also dem | |
| Kirchenparlament der Nordkirche. | |
| Der damalige Innensenator Michael Neumann meinte, Sie machten ihm das Leben | |
| schwer. Was haben Sie geantwortet? | |
| „Wir sind nicht das Problem – Hamburg hat ein Problem und wir versuchen, | |
| Teil der Lösung zu sein.“ Wir waren immer lösungsorientiert – und zwar im | |
| Interesse der Geflüchteten – immer an Deeskalation interessiert, immer | |
| verhandlungsbereit. Nur dass das von Seiten des Senats nicht immer | |
| wahrgenommen wurde. | |
| Der SPD-Senat hat Ihnen ja vorgeworfen, seine Politik zu unterlaufen. | |
| Welche Politik denn? Man hat in den ersten Monaten überhaupt keine Politik | |
| erkannt. Es gab Ansagen wie: „Die Männer dürfen nicht in Hamburg sein und | |
| müssen alle zurück nach Italien.“ Das wäre ja an der praktischen Umsetzung | |
| gescheitert. Der Senat hätte die Männer in Bussen nach Bozen gebracht – und | |
| jeder hätte aufgrund seiner Papiere das Recht gehabt, wieder einzureisen. | |
| Das ist mehrfach passiert. Das Ungerechte dabei ist, dass einem Stadtstaat | |
| auferlegt wird auszubaden, was letztendlich die europäische | |
| Flüchtlingskrise ist. | |
| Was haben Sie gedacht, als Angela Merkel 2015 die Grenze geöffnet hat und | |
| Hunderttausende kamen? | |
| Ich habe gedacht, schau mal, es sickert doch irgendwann durch bis zum | |
| Bundeskanzleramt. Jetzt macht Angela Merkel en gros, was wir en détail | |
| gemacht haben: Es war eine humanitäre Ausnahmesituation und sie musste den | |
| Druck rausnehmen. Übrigens wurden die Grenzen nicht geöffnet. Sie waren | |
| offen und sind es bis heute. Die Vorstellung, die Grenzen schließen zu | |
| können, ist vollkommen irrational. Dass Angela Merkel beschlossen hat, mit | |
| diesen Flüchtlingen human umzugehen, sie als Menschen zu betrachten – das | |
| war ihre eigentliche Entscheidung. | |
| Es gab dann eine ungeheure Aufbruchstimmung. | |
| Das hat mich fast verwundert. Ich habe aber viele der Akteure, die 2013 bei | |
| uns waren, dort wiedergefunden. Darunter sind die Gründer von Sea Watch, | |
| die Flüchtlingshilfe Harvestehude oder Hanseatic Help. Eigentlich kann | |
| Hamburg stolz sein. Die Stadt hatte 2015 viele Leute, die sofort bereit | |
| waren zu helfen. Die Ursuppe davon war die Lampedusa-Bewegung. | |
| 1 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Gernot Knödler | |
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