# taz.de -- Tod von Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o: Der Säer von Worten | |
> Der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o ist tot. Er stand und | |
> schrieb für eine „Dekolonisierung des Denkens“ und legte sich mit | |
> Diktatoren an. | |
Bild: Er vertrat einen radikalen Begriff von Emanzipation: Ngugi wa Thiong'o is… | |
Als der kleine Njoroge zur Schule darf, ist er ganz stolz. Seine Mutter | |
wird ihm ein Hemd und eine Hose kaufen, seine ersten. Seine Eltern würden | |
ihn nicht zum Unterricht schicken, wenn sie nicht an ihn glaubten, das weiß | |
er. Er wird Englisch lernen, und wer Englisch kann, der kann reich werden | |
und kann sogar über das Meer fahren, nach Indien oder nach England, wo Mr. | |
Howlands herkommt, der Schuldirektor, der alles weiß. | |
„Ich frage mich, wieso er England verlassen hat, die Heimat des Wissens, | |
und hier hergekommen ist“, meint da sein älterer Bruder Kamau, der nicht | |
zur Schule geht, sondern eine Schreinerlehre macht. „Er muss dumm sein.“ | |
„Ich weiß nicht“, sagt der kleine Njoroge. „Man kann einen weißen Mann | |
nicht verstehen.“ | |
Der Roman „Weep Not, Child“ mit diesen Eröffnungsszenen war 1964 der erste | |
von einem Afrikaner geschriebene englischsprachige Roman, der in Ostafrika | |
erschien. James Ngugi schrieb ihn als Student an der ugandischen | |
Universität Makerere, während in Kenia der von den Briten [1][brutal | |
niedergeschlagene Mau-Mau-Aufstand] des Volks der Kikuyu gegen die weißen | |
Siedler tobte. Das Aufwachsen in diesem Krieg, der Familien zerstört, ist | |
Kernthema dieses schmalen, düsteren Romans, der in den Kanon der | |
Weltliteratur eingegangen ist. Für Millionen afrikanischer Schulkinder ist | |
es die Einführung sowohl in englischsprachige Literatur als auch in den | |
antikolonialen Widerstand. | |
## Für eine „Dekolonisierung des Denkens“ | |
Am Mittwoch ist Ngugi wa Thiong’o, wie der Autor seit seinem Bruch mit der | |
englischen Sprache unter Hinzunahme des Familiennamens seiner Mutter hieß, | |
im Alter von 87 Jahren in Atlanta (USA) verstorben. [2][Kenias Präsident | |
William Ruto würdigt ihn] als „Kenias geliebten Lehrer“, der einen | |
„unauslöschlichen Eindruck auf die Weise, wie wir über unsere | |
Unabhängigkeit denken“, hinterlassen habe. Ugandas Oppositionsführer Bobi | |
Wine sagt: „Seine Werke waren nicht bloß Literatur, sie waren | |
Befreiungsmanifeste.“ | |
Wie kaum ein Schriftsteller Afrikas stand Ngugi wa Thiong’o für einen | |
radikalen Begriff von Emanzipation, der weit über Unabhängigkeit | |
hinausgeht. Der Kenianer forderte eine „Dekolonisierung des Denkens“, wie | |
auch eine berühmte [3][Aufsatzsammlung] von ihm heißt. Für wahre Freiheit | |
müssten Afrikaner sich von kolonialen Sprachen und kolonialer Leitkultur | |
lösen, deren Überlegenheit ihnen nicht nur während der Kolonialzeit, | |
sondern auch danach von klein auf eingeimpft werde. | |
„Ich wurde in eine große Bauernfamilie hineingeboren: Vater, vier Frauen | |
und ungefähr 28 Kinder“, erinnert sich der 1938 geborene Ngugi an seine | |
Kindheit in Kamirithu, einer kolonialen Siedlung für enteignete | |
Kikuyu-Bauern im Zentrum Kenias. Man sprach Gikuyu, die Kleinen hörten die | |
Geschichten der Großen und erzählten sie sich gegenseitig weiter. „Die | |
Sprache vermittelte uns über Bilder und Symbole eine Weltsicht und verfügte | |
über ihre eigene Schönheit. Das Elternhaus und das Feld waren damals unser | |
Kindergarten. […] Und dann kam ich in die Schule, in eine koloniale Schule, | |
und diese Harmonie wurde gebrochen.“ | |
In „Weep Not, Child“ sind Njoroges erste Englischstunden Momente der Qual. | |
Die Klasse lernt im Chor, wie man „You are standing up“ (Du stehst auf) | |
sagt. Njoroge muss aufstehen, die Lehrerin fragt die Klasse, was er macht; | |
die Kinder rufen „Du stehst auf“ – richtig! Die Lehrerin fragt Njoroge, w… | |
er macht, er flüstert „Du stehst auf“ – falsch! „Ich stehe auf“ wäre | |
korrekt gewesen, aber woher soll er das wissen? | |
Wer am Ende der Grundschule die Englischprüfung besteht, darf auf die | |
Oberschule, wo nur Englisch gesprochen wird, erinnert sich Ngugi selbst in | |
seinem Aufsatz [4][„Die Sprache der afrikanischen Literatur“]. Gikuyu | |
sprechen ist jetzt streng verboten. „Der Übeltäter erhielt eine | |
Prügelstrafe – drei oder fünf Stockhiebe auf den nackten Hintern – oder | |
wurde dazu gezwungen, eine Metallplakette mit der Aufschrift ‚Ich bin doof‘ | |
oder ‚Ich bin ein Esel‘ um den Hals zu tragen.“ Ein ausgeklügeltes System | |
zwang Schüler geradezu, sich gegenseitig zu denunzieren. | |
Die koloniale Eroberung Afrikas durch Europa, so Ngugis Analyse, war nur | |
der Anfang. „Der Nacht des Schwertes und der Gewehrkugel folgte der Morgen | |
der Kreide und der Schultafel. Die physische Gewalt des Schlachtfeldes | |
wurde von der psychischen Gewalt des Klassenzimmers abgelöst. […] Die | |
Gewehrkugel war Mittel der physischen Unterwerfung. Die Sprache war | |
Werkzeug der geistigen Unterwerfung.“ | |
Diese geistige Unterwerfung zu überwinden war Ngugis Lebensaufgabe. Kenia | |
hält in Afrika eine Sonderstellung, ähnlich wie Kamerun auf der anderen | |
Seite des Kontinents: In den 1950er Jahren regte sich eine bewaffnete | |
Befreiungsbewegung, aber sie wurde von der Kolonialmacht niedergeschlagen. | |
Danach erhielt das Land eine rein formale Unabhängigkeit unter einem | |
Marionettenregime, das die Interessen der Kolonialmacht – Großbritannien in | |
Kenia, Frankreich in Kamerun – intakt ließ. Nicht zufällig sind Kenianer | |
wie Ngugi wa Thiong’o und Kameruner wie Achille Mbembe zu Wortführern der | |
„postkolonialen“ Kritik an der Bewahrung kolonialer Unterdrückung unter | |
afrikanischen Vorzeichen geworden. | |
„Die Anwesenheit der Kolonisatoren führte dazu, dass eine Elite entstand, | |
die die Sprache und den Stil der Eroberer annahm“, analysiert Ngugi in | |
seinem Aufsatz „Auf dem Weg zu einer nationalen Kultur“. An anderer Stelle | |
mokiert er sich über postkoloniale Herrscher wie Kenias damaligen | |
Präsidenten Daniel arap Moi. Der riet seinen Ministern 1984, zum Höhepunkt | |
seiner Gewaltherrschaft, sie sollten „mir nachplappern wie Papageien“ und | |
keine eigenen Gedanken äußern. Er selbst habe das schließlich früher auch | |
nie gemacht. | |
## Theaterstücke auf Gikuyu | |
An der Sprachfrage entzweite sich Ngugi mit seinem Vorbild Chinua Achebe, | |
dem berühmtesten Schriftsteller Nigerias. Als junger Student hatte James | |
Ngugi ihm auf einer Konferenz an seiner Universität in Uganda das | |
Manuskript zu „Weep Not, Child“ vorgelegt, woraufhin Achebe in London für | |
die Veröffentlichung sorgte. Achebe warb in einer Rede 1964 dafür, dass | |
afrikanische Intellektuelle sich der englischen Sprache nicht verweigern, | |
sondern bemächtigen sollten, „ein neues Englisch, um der neuen | |
afrikanischen Umgebung zu entsprechen“. Nur so könne man in der modernen | |
Welt bestehen. Ngugi konterte, dies sei eine „fatalistische Logik“. | |
Den Kampf für kulturelle Emanzipation focht Ngugi nach Kenias | |
Unabhängigkeit 1963 aktiv aus. Während das Nationaltheater in Nairobi | |
weiter von Weißen geleitet wurde und Shakespeare spielte, betrieb Ngugi an | |
der Universität Nairobi im Umfeld der globalen 1968er-Debatten die | |
Auflösung der Englischfakultät. Und schließlich gründete er auf einem Stück | |
Brachland in seinem alten Heimatdorf ein Theater, das erstmals in Kenia | |
Stücke auf Gikuyu aufführte und die Kikuyu-Kultur kritisch auf die Bühne | |
brachte, was mittlere Skandale auslöste. | |
Dafür wurde er Ende 1977 verhaftet, kurz nach Erscheinen seines Romans | |
„Petals of Blood“ über den postkolonialen Verrat Kenias. Er saß in | |
Einzelhaft, kam 1978 frei und musste, um seine Familie zu schützen, Kenia | |
verlassen. Erst 2004 sah er sein Land wieder; bleiben konnte er nicht, er | |
wurde angefeindet. Ins Kenia des 21. Jahrhunderts mit seinem | |
selbstverständlichen Nebeneinander kosmopolitischer Globalisierung und | |
intoleranter ethnischer Feindseligkeit passte der große Nationalist nicht | |
mehr. | |
Ngugis spätere Romane auf Gikuyu wurden – selbst in ihrer englischen | |
Übersetzung – außerhalb Kenias wenig wahrgenommen. Den Literaturnobelpreis, | |
den er nach Meinung vieler verdient hätte, bekam er nie. Manche seiner | |
Schriften aus dem Exil triefen vor marxistischem Jargon; manchmal wirken | |
seine Romane holzschnittartiger als in den Anfangszeiten. | |
## Eine Geschichte des Scheiterns? | |
Schon 1978 konstatierte der kenianische Politologe Ali Mazrui bissig, Ngugi | |
werde „mit jedem Werk wütender“ und es sei eben nicht so einfach, der | |
kolonialen Prägung zu entrinnen, wie er selbst jeden Morgen feststellen | |
müsse, wenn er sich vor dem Spiegel rasiere. Als Schriftsteller in London, | |
Gastprofessor in Bayreuth, Filmstudent in Stockholm und ab 1989 als | |
Professor in den USA hat Ngugi seinen Kampf für sprachliche Emanzipation | |
nur deswegen global führen können, weil er ihn auf Englisch führen konnte. | |
In gewisser Hinsicht ist Ngugis Karriere eine Geschichte des Scheiterns, | |
wie auch Njoroges Aufwachsen als Verlust aller Illusionen in „Weep Not, | |
Child“. Hätte Ngugi diesen Roman nicht auf Englisch geschrieben, dann hätte | |
der Nigerianer Achebe ihn nicht lesen können und er hätte nie einen Verlag | |
gefunden. Nirgends in Afrika gibt es höhere Bildung ohne die koloniale | |
Sprache, keine Verfassungstexte, keine Rechtsprechung. In vielen Ländern | |
Afrikas kommt bis heute die Unterrichtssprache aus Europa, und wer etwas | |
auf sich hält, redet mit seinen Kindern Englisch oder Französisch, die | |
einheimische afrikanische Sprache ist etwas fürs Kindermädchen. | |
Ngugi beharrt darauf, das nicht hinzunehmen. Kinder müssen mit der Sprache | |
aufwachsen, die ihrem unmittelbaren Erleben entstammt, sonst können sie | |
ihre Umwelt nicht begreifen. „Wenn du alle Sprachen der Welt kennst, aber | |
nicht deine Muttersprache – das ist Versklavung. Aber wenn du deine | |
Muttersprache kennst und alle Sprachen der Welt hinzufügst – das ist | |
Ermächtigung“, [5][sagte er 2015.] | |
1995 diagnostizierten Ärzte in den USA, er habe Krebs und eine | |
Lebenserwartung von drei Monaten. Es wurden dreißig Jahre. „Seine Worte | |
haben den Geist gepflügt wie fruchtbares Land“, [6][lobt ihn das Green Belt | |
Movement], die von der verstorbenen Friedensnobelpreisträgerin Wangari | |
Maathai gegründete Umweltbewegung Kenias. „Er hat uns gelehrt, unsere | |
Namen, unsere Sprachen und unser Land zurückzuholen. Ruhe in Frieden, | |
großer Säer von Worten. Deine Ernte wird nie vergehen.“ | |
29 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Kenias-Mau-Mau-endlich-legalisiert/!716467&s=mau+mau+kenia&SuchRah… | |
[2] https://x.com/WilliamsRuto/status/1927961203344613769 | |
[3] https://unrast-verlag.de/produkt/dekolonisierung-des-denkens/ | |
[4] https://postcolonial.net/wp-content/uploads/2019/04/Ngugi_Excerpts_Language… | |
[5] https://x.com/LarryMadowo/status/1927967601537200144 | |
[6] https://x.com/GreenBeltMovmnt/status/1928003850604101901 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
## TAGS | |
Kenia | |
Kolonialismus | |
Literatur | |
Kolonialismus | |
Literatur | |
Deutscher Kolonialismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Antikolonialer Vordenker Frantz Fanon: Den Kanon neu denken | |
2025 wäre der Politiker und Autor Frantz Fanon 100 Jahre alt geworden. | |
Zadie Smith und Adam Shatz haben in Potsdam sein postkoloniales Erbe | |
diskutiert. | |
Mithu Sanyals neuer Roman: Welche Perspektive zählt? | |
Mithu Sanyals vielarmiger Roman „Antichristie“ schließt die postkolonialen | |
Debatten unserer Tage mit der Geschichte der Befreiung Indiens kurz. | |
Postkoloniales Gedenken: Begrabene Erinnerungen | |
Was machen wir mit veraltetem kolonialen Gedenken wie dem „Herero-Stein“? | |
Die Ausstellung „Buried Memories“ startet einen Diskussionsprozess. |