# taz.de -- Autorin über Identitätskonzepte: „Das ist magischer Realismus“ | |
> Ultralustig erzählt Mithu M. Sanyal in ihrem Debut-Roman „Identitti“ von | |
> der Tragödie, in Deutschland „mixed race“ zu sein. | |
Bild: Halb-Weiß gibt's auch als Maske, halb-indisch nur als rassistische Zusch… | |
taz: Frau Sanyal, sind Identitätsdiskurse immer fake? | |
Mithu Sanyal: Oha. Nein. Ja. Also ganz klassisch-postmodern: Jein. | |
Wie soll ich das jetzt verstehen? | |
Natürlich haben wir alle nicht die eine feste Identität, die man irgendwo | |
finden könnte draußen in der Welt – nach dem Motto man ist sie und man hat | |
sie. Identität ist natürlich immer konstruiert, aber nicht zwangsläufig | |
falsch: Auch die Masken, die wir tragen, machen uns zu den Menschen, die | |
wir sind. | |
In Ihrem Roman „Identitti“ nutzt die Professorin Saraswati das fluide | |
postmoderne Identitätskonzept aus, um ein identitätspolitisches Spiel aus | |
einem Bereich der Unentscheidbarkeit zu treiben. Ist das der Ort, an dem | |
wir uns befinden? | |
Ja. Wir sind [1][immer in einem Bereich der Unentscheidbarkeit]. Aber …! | |
Aber? | |
Ich glaube, es geht genau darum, dieses große Aber auszuloten. Das besteht | |
im Kern darin, dass bestimmte Menschen sich Dinge freier aussuchen können | |
als andere, so wie Nivedita. | |
… die zweite Hauptfigur des Romans? | |
Die eigentliche Hauptfigur, würde ich sagen. Sie ist eine Person, der von | |
außen eine Identität zugeschrieben wird. Und sie selbst hat immer das | |
Gefühl, sie wäre nicht authentisch genug indisch, nicht authentisch genug | |
deutsch. Ihre Mutter kommt ja noch dazu aus Polen. Zugleich sehen wir, | |
gerade, wenn wir uns historische Verhältnisse anschauen, dass bestimmte | |
Menschen fest in ihre Identität hineingepackt werden. Und universell sein | |
war sehr lange gleichbedeutend mit weiß sein. Deshalb ist es ja so ein | |
wunder Punkt, was Saraswati macht. | |
Sie ist als Forscherin Teil der Dekolonialisierungs-Strömung, und gibt | |
sich, obwohl weiß, als Woman of Color aus. | |
Ja, und wenn die Welt eine andere wäre, als sie ist, wäre das natürlich | |
völlig egal. Denn: Mein Gott, was ist konstruierter als race? Geschlecht | |
hat ja zumindest noch irgendwelche realen Bezugspunkte, aber „race“ ist ja | |
komplett konstruiert! | |
… wirkt aber auf seltsame Weise identitätsbildend: Dabei verhandeln Sie | |
Fragen, die bisher in der amerikanischen Philosophie, etwa bei Linda Martín | |
Alcoff [2][als, ähm, als „Mestizo Identity“ verhandelt] wurden…? | |
Das ist das Thema von Nivedita. Und dafür gibt es in Deutschland kein | |
Konzept. Wir haben noch nicht einmal ein Wort dafür. Naja, genau genommen | |
haben wir natürlich Worte dafür, die aber allesamt hochgradig rassistisch | |
sind. | |
Oh ja, ich habe mir beim Versuch, es zu sagen, gerade auch schon einen | |
abgestottert. | |
Es ist schwierig. Und auch die Worte, die ich verwende, werden wir in fünf | |
Jahren wahrscheinlich auch nicht mehr verwenden. Sprache muss immer auch | |
den Ist-Zustand beschreiben. Und der Ist-Zustand ist ein schwieriger. | |
Komplex genug für einen Roman also? | |
„Identitti“ ist ein Buch darüber, „mixed race“ zu sein. Die Figur Sara… | |
ist entstanden, als ich von diesem ähnlichen realen Fall in den USA gehört | |
hatte – Rachel Dolezal, die eine Schwarze Bürgerrechtsaktivistin und | |
Uni-Dozentin war. [3][Und dann kam raus: Oh, sie ist aber in Wirklichkeit | |
Weiße]. Da dachte ich: Perfekt, ich kann diesen Fall nehmen und nach | |
Deutschland transponieren und mit ihm genau die Geschichte erzählen, die | |
schon vorher in meiner Hauptfigur drin waren. | |
Sie schreiben aber nicht über Dolezal selbst? | |
Nein, gar nicht. Es ist auch kein Buch darüber, ist es richtig oder falsch | |
was Saraswati gemacht hat? Sie dient stattdessen als der Katalysator, mit | |
dem ich Niveditas Geschichte erzählen kann: Was bedeutet es, zwischen den | |
Stühlen zu sitzen, was heißt es, dass man Ausdrücke wie „halb-Indisch“ | |
nutzt und nicht etwa „doppelt“, warum muss es weniger sein und nicht mehr? | |
Welche Hälfte wäre denn indisch? Die rechte? Die linke? Ist doch Quatsch! | |
Aber gebräuchlich. | |
Es ist ganz klar ein Relikt der Rassentheorie, das immer auch eine | |
Pathologisierung bewirkt, eine Wahrnehmung als weniger gut, als weniger | |
stabil. Als meine Mutter mit mir schwanger war, wurde ihr noch gesagt: | |
Passen Sie auf, diese Kinder neigen mal eher zu psychischen Problemen. | |
Weshalb wir das „Mixed-Race“-Sein auch nicht feiern konnten. Das ist mein | |
Thema. | |
Neben der fast schon unheimlichen Fähigkeit dieser pseudo-indischen | |
Professorin, Realität durch Sprache zu manipulieren, ragt unsere wahre | |
Wirklichkeit in die Fiktion hinein, etwa [4][wenn sich real-existierende | |
taz-Kolumnistinnen am fiktiven Twitter-Shitstorm] gegen die enttarnte | |
Saraswati beteiligen. Warum war das wichtig? | |
Das hat mehrere Gründe. Einmal ist die Geschichte ja so abgefahren: Die | |
Hauptfigur unterhält sich die ganze Zeit mit einer Göttin und die greift | |
dann auch noch mehr und mehr in die Handlung ein, also das ist schon | |
magischer Realismus. Deswegen war mir wichtig, dass dieser Roman ansonsten | |
tausendprozentig fest in der Realität verwurzelt ist. Und dann wollte ich | |
diese Vielstimmigkeit haben, also nicht bloß unterschiedliche Meinungen, | |
sondern auch diese unterschiedlichen Positionen in der Debatte und im | |
Internet abbilden und diese unterschiedlichen Stile. | |
Die haben Sie imitiert? | |
Nein! Ich habe Leute gefragt, die viel zu diesen Themen in sozialen Medien | |
tweeten, und dachte: Super, die schreiben was für mich, und das spart mir | |
Arbeit. | |
Wie praktisch! | |
Ja von wegen. Es war natürlich viel aufwendiger, als es selbst zu | |
schreiben: Ich musste ja alles erklären. Das Buch war ja noch gar nicht da. | |
Also hat jeder dieser Tweets viel Energie gekostet. Aber das ist es auch | |
wert. Sie gehören mit zu meinen Lieblingspassagen im Buch. Und zwar weil | |
sie nicht nur alle einen völlig neuen Blick auf das Thema hatten, sondern | |
es auch mit einer völlig anderen Sprache gemacht haben, als ich das gekonnt | |
hätte. | |
Das war nicht abgesprochen? | |
Gar nicht. Ich hatte denen jeweils gesagt: Schreib etwas so, wie du es | |
schreiben würdest, wenn du nachts über so einen Fall lesen würdest. | |
Möglichst unreflektiert, direkt aus dem Bauch heraus. Und ich bin noch | |
immer total bewegt von der Großzügigkeit der Tweet-Spender*innen, die ich | |
ja auch gar nicht alle persönlich kannte, und die mitgemacht haben, weil | |
ihnen die Idee gefiel. | |
18 Jan 2022 | |
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[2] https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&… | |
[3] https://www.newsweek.com/342511 | |
[4] /Fatma-Aydemir/!a231/ | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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