# taz.de -- Debatte um Parlamentspoet_in: Wenn eine Idee ein Land triggert | |
> Drei Autor_innen haben ein_e Parlamentspoet_in für Deutschland gefordert. | |
> Das mag Quatsch sein, aber noch viel quatschiger ist die Debatte darum. | |
Bild: Wieso also nicht ein_e Poet_in im Bundestag? | |
Die Poeten, [1][sagte James Baldwin] einmal und meinte damit Künstler_innen | |
jeder Form, seien letztlich die einzigen Menschen, die die Wahrheit über | |
uns wüssten. „Nicht die Soldaten. Nicht die Politiker. Nicht die Priester. | |
Nicht die Gewerkschafter. Nur Poeten.“ | |
Welche Wahrheit Baldwin meinte? Dass unser Leid universell ist und dass es | |
uns alle miteinander verbindet, weil wir unter denselben unterdrückerischen | |
und ausbeuterischen Bedingungen leiden. Was den Poeten von seinen | |
Mitleidenden unterscheide, sei bloß der Umstand, dass er dieses Leid | |
konfrontiere, statt den Blick abzuwenden, um etwas daraus zu machen. Und um | |
dieses Etwas den Mitleidenden zurückzugeben: „Ich kann dir sagen, was das | |
Leiden ist, und dir vielleicht dabei helfen, weniger zu leiden.“ | |
Folgen wir also der Auffassung Baldwins, gibt es im Grunde keinen | |
volksnäheren Typus als den Poeten. Weil aber „volksnah“ nach | |
Marketingsprech für aufstiegswillige Politiker_innen klingt, die | |
bekanntlich wenig Interesse haben, Herrschaftsverhältnisse infrage zu | |
stellen, nennen wir es lieber: aufmerksam. In der Konsequenz bedeutet das | |
für Baldwins aufmerksamen Poeten politische und soziale Vereinsamung: | |
„Kunst ist dazu da, um zu beweisen und zu ertragen, dass jede Sicherheit | |
eine Illusion ist. In diesem Sinne stehen alle Künstler zwangsläufig jeder | |
Art von System oppositionell gegenüber.“ | |
Als kürzlich die drei Autor_innen [2][Mithu Sanyal, Simone Buchholz und | |
Dmitrij Kapitelman in der Süddeutschen Zeitung] die Einführung eine_r | |
Parlamentspoet_in forderten, erschrak ich also. Es schüttelte mich bei dem | |
Gedanken, ein_e Poet_in könne sich in den Dienst des Bundestags stellen | |
wollen. Aber nur für einen Moment. Im nächsten schon schossen mir zwei | |
perfekte Kandidat_innen für den Posten durch den Kopf, ich lachte, zuckte | |
die Achseln und dachte mir: interessantes Gedankenspiel. Es tummeln sich | |
genügend zwiespältige Gestalten im Bundestag. Wieso also nicht noch ein_e | |
Poet_in? Irgendwen würde dieser Job schon erfüllen. Hauptsache, er bliebe | |
nicht an mir hängen. | |
## Voller Hohn und „Skandale“ | |
Anscheinend bin ich nicht allein mit meinem Unbehagen, auch wenn meines | |
softer ausfiel. Ein Großteil der Presse stürzte sich voller Hohn auf Katrin | |
Göring-Eckhardt, die die Forderung unterstützte und die Autor_innen zum | |
Gespräch einlud. Das Land habe andere Sorgen, wurde in dreißig | |
verschiedenen Versionen formuliert. „Rosen sind rot /Veilchen sind blau | |
/Gendern ist scheiße /Das weiß ich genau“, twitterte eine Userin, Bild.de | |
zitierte den Tweet im Bericht über den „Skandal“. | |
So aggressiv wie die Öffentlichkeit auf die Idee eine_r Parlamentspoet_in | |
reagiert, scheint das Land aber ja gerade keine anderen Sorgen zu haben. | |
„Dichtet lieber die Fenster!“ fordert etwa ein Handelsblatt-Artikel in | |
Reimen, FDP-Mann Kubicki nennt die Forderung ein „elitäres Projekt“. Fragt | |
sich, ob der Bundestag nicht ohnehin die elitärste Veranstaltung des Landes | |
ist und ob die Präsenz einer Poet_in diesen Elitismus verstärken oder eher | |
zur Schau stellen würde? | |
Auch in dieser Zeitung [3][fantasierte ein Kollege], die hypothetische | |
Parlamentspoet_in sei doch bestimmt „divers“ und die interessiere sich doch | |
gar nicht für Hartz IV und Verteilungsfragen. Na, so was! Es gehört | |
anscheinend nicht viel dazu, mit einer harmlosen, an sich poetischen Idee | |
das halbe Land zu triggern. Was sich dabei entlädt, ist Hass auf eine | |
Kunst, die sich anmaßt, mehr zu sein als pure Freizeitunterhaltung. Ja, | |
vielleicht ist es Quatsch, eine_n Parlamentspoet_in einzuführen. Aber noch | |
viel größerer Quatsch ist es, sich an der Idee abzukämpfen, als hinge die | |
Zukunft der Demokratie davon ab, jeden ästhetischen Zugang zur Welt als | |
irrelevant abzuwerten. | |
14 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Ein-anderes-Land-von-James-Baldwin/!5772857 | |
[2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/parlament-poesie-kraft-der-sprache-kanad… | |
[3] /Poetin-fuer-den-Bundestag/!5825165 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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