# taz.de -- Tod von Joan Didion: Das Spiel ist aus | |
> Joan Didion ist tot, unsere Autorin ist geknickt. Halt findet sie in den | |
> Alltagsbeobachtungen von Didion selbst. | |
Bild: Joan Didion starb am 23. Dezember im Alter von 87 Jahren in New York | |
Es sind diese Tage zwischen den Jahren, an denen gefühlt nichts passiert, | |
an denen aber natürlich alles passiert, nur dass wir uns erlauben, davon | |
nichts mitzubekommen. Ich sitze im Haus meiner Eltern, in dem ich nie | |
gelebt habe, und starre die Wand an. | |
Normalerweise würde ich die Schuhkartons mit den alten Fotos rauskramen, | |
diese aus der Zeit gefallene letzte Kalenderwoche nutzen, um in | |
Erinnerungen zu schwelgen und Dinge zu machen, die nichts mit Zukunft zu | |
tun haben. Aber mir ist nicht nach Nostalgie. Und mit Anbruch des dritten | |
Pandemiejahres ist mir am allerwenigsten nach dem Jetzt. | |
Ich muss an einen Satz von [1][Joan Didion] denken. „Man setzt sich zum | |
Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf.“ Ich muss oft an Sätze | |
von Joan Didion denken. Sie ist die Art von Autorin, deren Stimme sich in | |
meinem Kopf wie eine ständige Gesprächspartnerin festgesetzt hat. Das hat | |
etwas mit ihrem Stil zu tun, mit der Art, wie Didion von Situationen | |
schreibt, in denen sie sich selbst befunden hat. | |
Sie ist da, aber nur zum Beobachten. Sie greift nicht aktiv ins Geschehen | |
ein und doch ist ihr Blick auf die Dinge und sich selbst so ehrlich und | |
unverkennbar, dass ihre Texte ständig in mein Leben einzugreifen scheinen. | |
Ist hinzusehen und die Dinge zu benennen vielleicht doch mehr Aktion, als | |
ich in letzter Zeit oft meine? | |
„Man setzt sich zum Abendessen und das Leben, das man kennt, hört auf.“ Der | |
Satz bezieht sich auf den Verlust von Normalität, als Didion ihren Ehemann | |
verliert. Zugleich wird der Autorin klar, dass es diese Normalität, oder | |
besser Alltäglichkeit, nach der sie sich zurücksehnt, so nie gegeben hat. | |
Ja, dass im Grunde nichts alltäglicher ist als der Tod selbst, nur dass wir | |
uns eben erlauben, solange es geht, davon nichts mitzubekommen. | |
In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? | |
Mit jeder Nachricht einer neuen Mutation sinkt die Hoffnung, dass die | |
Pandemie in absehbarer Zeit enden wird. Und so lässt sich für [2][2022 | |
schon prognostizieren]: Menschen werden sich infizieren, genesenen und | |
sterben, andere werden ihr Zuhause nicht verlassen, um sich und ihr Umfeld | |
zu schützen. Wieder andere werden so tun, als sei das alles eine Lüge. Es | |
ist nichts verwerflich daran, dass sich unter diesen Umständen viele | |
zurücksehnen in eine Zeit, in der alles noch „normal“ war. Bloß: Wann soll | |
das gewesen sein? | |
Viele sagen ja, dass das grausige Pandemiemanagement Probleme, die schon da | |
waren, [3][einfach weiter verschärft], beschleunigt und für die Mehrheit | |
offengelegt hat. Es wurden schon vorher Menschen ausgebeutet und gefährdet | |
zugunsten von Profiten. Natur und Lebensgrundlagen wurden bereits lange vor | |
der Pandemie zerstört. Es war nur etwas einfacher, sich abzulenken, nicht | |
genau hinzusehen. | |
Insofern ist es vielleicht gar nicht die „Normalität“, der wir | |
hinterhertrauern, sondern vielmehr unsere verlorene Naivität. Dass wir | |
dachten, ja, wir müssten vieles ändern, aber es würde schon alles okay | |
sein. Vielleicht sollten wir aufhören, uns zu fragen, wann die Pandemie | |
enden wird. Vielleicht geht es stattdessen um die Frage: In was für einer | |
Gesellschaft wollen wir leben und was ist dafür zu tun? Nicht irgendwann, | |
wenn alles „vorbei“ und „okay“ ist. Sondern jetzt. Mitten in der Trauer. | |
Ich war geknickt ein Tag vor Heiligabend, als bekannt wurde, dass Joan | |
Didion im Alter von 87 Jahren starb. Schließlich gehören ihre Sätze seit | |
Jahren zu meinem Alltag. Aber allein mir in Erinnerung zu rufen, wie | |
unerbittlich Didion sich erst mit dem Tod ihres Mannes und dann mit dem | |
ihrer Tochter auseinandergesetzt hat in zwei wunderschönen, | |
aufeinanderfolgenden Büchern, erleichterte mich ein bisschen. Ganz so, als | |
ob Didion sich mit ihrem Hinsehen die Angst vor dem eigenen Sterben | |
genommen haben musste. Ich glaube, sie starb friedlich und im Reinen mit | |
sich – wenn auch nicht mit dieser Welt. | |
30 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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