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# taz.de -- „Doktormutter Faust“ am Schauspiel Essen: Mephisto ist eine net…
> Unverblümt und locker ruft Fatma Aydemir in ihrem ersten genuinen
> Theaterstück zeitgenössische Diskurse auf. Dafür nahm sie sich Goethes
> „Faust“ vor.
Bild: Mephisto (hinten Mitte) und Margarethe Faust (vorne) irgendwo zwischen Un…
„Gretchen ist kein Mensch, den ich retten muss, Gretchen ist eine Figur,
die ich abschaffen muss, damit wir alle frei sind“, sinniert die
„Dichterin“ im Prolog auf dem Theater. Wir sind nicht bei Johann Wolfgang
von Goethe, sondern bei Fatma Aydemir, die sich in ihrem ersten genuinen
Theaterstück für das Schauspiel Essen gleich das deutsche
Teufelspaktdrama schlechthin vorgeknöpft hat: „Faust“! Und obwohl man
dachte, damit hätte Jella Haases Chantal schon vor Jahren in einem
Werbe-Kurzclip auf Youtube kurzen Prozess gemacht („meine Meinung: nur
wegen Effekterei haschen“), hat [1][die ehemalige taz-Redakteurin in ihrer
forschen Überschreibung] „Doktormutter Faust“ einen interessanten neuen
Dreh für den Schulstoffklassiker gefunden.
Professor Doktor Margarete Faust, „profilierte Komparatistin, Koryphäe der
Geschlechterforschung“, eine engagierte Feministin mit hohem Sozialstatus
und Privilegien, ist ins Visier einer nicht mehr allzu fiktiven rechten
Regierung geraten, weil sie Studentinnen mit Institutsmitteln die
mittlerweile illegale Abtreibung im Ausland finanziert hat. Vor den zu
erwartenden Scherben ihres Lebenswerks und ausschließlichen -inhalts
erinnert Mephisto sie plötzlich an verdrängte Sehnsüchte. Er schiebt ihr
den schwulen Karim vor die Nase, der nicht nur bei ihr promovieren will,
sondern sich überhaupt nur mit einem Promotionsvorhaben weiter im Land
aufhalten darf. Faust sagt zu, obwohl sie weiß, dass ihre Tage an der Uni
gezählt sind.
Entfernt erinnert Fatma Aydemirs Professorin an die amerikanische
[2][Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell], die wegen sexueller
Belästigung eines Doktoranden 2018 zeitweilig von der Lehre an der New York
University suspendiert wurde. Mit der Erschütterung der
links-feministischen Gewissheit, dass es in der Regel Männer sind, die
Macht missbrauchen, spielt nun auch die Autorin, die den entscheidenden
Stationen von „Faust I“ mit ein paar cleveren Verschiebungen bis in den
Kerker folgt. In einer unverblümten, zeitgenössische Diskurse locker
aufrufenden Sprache und mit viel Empathie für ihre Protagonist:innen –
selbst Mephisto ist eigentlich eine nette, genderfluide Person – übersetzt
sie den Klassiker in die komplizierte Gegenwart.
Dass Uraufführungsregisseurin Selen Kara, die ab dieser Spielzeit zusammen
mit Christina Zintl die Essener Schauspielsparte leitet, mit „Doktormutter
Faust“ eröffnet, ist ein geschickter Move und ein Statement. Nicht nur,
weil Kara bereits zwei Bücher von Aydemir auf die Bühne gebracht hat,
zuletzt die zum Münchner Festival Radikal Jung eingeladene Mannheimer
[3][Produktion „Dschinns“]. Mit „Neues deutsches Theater – under
construction“ hat das Leitungsduo zudem seine erst Spielzeit überschrieben
und geht damit noch einen Schritt weiter als das „postmigrantische Theater“
der 2010er Jahre: Diversität ist hier selbstverständlich, der Umgang mit
dem Kanon und der Institution Stadttheater aber eben auch.
## Geschmeidiger Hedonistenhumor
Sehr solide wirkt denn auch Karas Regie, die sich ganz aufs Schauspiel
konzentriert und nur gelegentlich auf einem runden Screen über der Bühne
mit Videos (Florian Schaumberger) von Granatapfelkernen und nackten Körpern
in dunklen Wassern eine etwas abgegriffene Sinnlichkeit behauptet. Die
meist leere Drehbühne im Grillo-Theater (Lydia Merkel) lässt
Vorstellungsraum für Uni-Büros wie Hexenküchen; hier schlüpfen Beritan
Balcı und Silvia Weiskopf immer mal wieder in weiße Lackmäntel und träufeln
blaue Essenzen in Cocktailgläser.
Nicolas Fethi Türksever bringt als Mephisto geschmeidigen Hedonistenhumor
und Tangokünste ins Spiel – von Gefahr jedoch keine Spur, während Eren
Kavukoğlus Stimme sich in vor Entsetzen fast überschlägt, als sein von
Faust durchaus begeisterter Karim erfährt, dass das Promotionsszenario „nur
ein Fake“ ist.
Im Zentrum aber steht Bettina Engelhardts Mittfünfziger-Professorin im blau
fließenden Anzug (Kostüme Anna Maria Schories). Sie trifft sehr genau den
souveränen Ton und die selbstbewusst-reflektierte Haltung der akademischen
Karrierefrau; später, als sie sich Karim in der Grauzone annähert und
[4][sich selbst als seine Mutter], nämlich Doktormutter ins nur potenzielle
Liebesspiel bringt und sich entblößt, bricht sie in irritierend schrilles
Gelächter aus – weil sie als Intellektuelle ihrer eigenen
Verführungsperformance nicht glaubt, sich vor sich selbst schämt?
Neben dem Schluss – als Fusion aus Faust und Grete, Täterin und Opfer
bleibt die einsichtige Professorin freiwillig im Kerker – markiert dieses
skrupulöse Lachen sehr deutlich die Differenz im Rollentausch. So weit geht
die Lust, sich mit der eigenen Klientel anzulegen, dann doch nicht. Aber
die Spielzeit hat ja auch gerade erst angefangen!
10 Sep 2023
## LINKS
[1] /Elitaerer-Literaturkanon/!5887496
[2] /Arte-Doku-ueber-Jacques-Derrida/!5031643
[3] /Dschinns-von-Fatma-Aydemir-im-Theater/!5866500
[4] /Ausstellung-zu-Mutterschaft-in-der-Kunst/!5901007
## AUTOREN
Eva Behrendt
## TAGS
Schauspiel
Diversität
Postmigrantisch
Literatur
Schwerpunkt LGBTQIA
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