| # taz.de -- Neuer Roman von Hengameh Yaghoobifarah: Böller durch die Magengrube | |
| > In luftiger Höhe: Hengameh Yaghoobifarah nimmt in „Schwindel“ auf höchst | |
| > unterhaltsame Weise eine queere Dreiecksbeziehung in den Blick. | |
| Bild: Autor*in und ehemalige*r taz-Kolumnist*in: Hengameh Yaghoobifarah | |
| Im Fahrstuhl stinkt es nach Sperma und nassem Hund, zum Vokuhila trägt man | |
| blond gebleichte Augenbrauen, und eine monogame Beziehung ist weit und | |
| breit nicht in Sicht – man würde annehmen, Hengameh Yaghoobifarahs neuer | |
| Roman spielt in Berlin. | |
| Bis ein als „Eisenfachwerkturm“ chiffrierter Eiffelturm auftaucht, dann ein | |
| Basar, der an Istanbul erinnert, und schließlich die New Yorker | |
| Freiheitsstatue. Diese Großstadt, merkt man langsam, ist vollkommen | |
| erschwindelt. Darum geht es auch in „Schwindel“, dem zweiten Roman | |
| Yaghoobifarahs: nicht nur um Taumelgefühle, sondern um Schwindeleien, von | |
| Notlügen bis Lebenslügen. | |
| Der Roman ist als klassisches Kammerspiel angelegt: Ava, Robin, Delia und | |
| Silvia sind auf einem Hochhausdach festgesetzt und kommen nicht mehr runter | |
| – weder die Treppe zu Avas Wohnung, noch emotional. Dass diese vier | |
| Menschen aufeinandertreffen, war nicht geplant, schon gar nicht von Ava. | |
| Silvia will Ava zur Rede stellen, die nach einer Affäre das Interesse an | |
| der deutlich älteren Silvia verlor und seit 13 Tagen deren Nachrichten | |
| ignoriert. | |
| Auch Dauerkiffer*in Delia ist in Ava verknallt, beide teilen regelmäßig | |
| Joints und ihr Bett, bloß will Ava eigentlich Robin. Robin, die in einer | |
| zwar offenen, aber doch Hetero-Langzeitbeziehung ist und dafür von der | |
| queeren Gruppierung mal mehr, mal weniger heimlich verachtet wird. Was ein | |
| harmonisches Polykül hätte werden können (sich überschneidende Beziehungen, | |
| in denen man über Grenzen und Bedürfnisse spricht), entpuppt sich | |
| spätestens auf diesem Dach als komplettes Desaster. | |
| ## Pöbelei oder kluge Gesellschaftskritik? | |
| [1][Hengameh Yaghoobifarah] ist nicht nur als ehemalige*r | |
| taz-Kolumnist*in und Mitherausgeber*in des Essaybands „Eure Heimat ist | |
| unser Albtraum“ bekannt, sondern seit dem Debütroman „Das Ministerium der | |
| Träume“ auch als Bestsellerautor*in. Yaghoobifarahs Texte halten einige für | |
| Pöbeleien, andere für kluge Gesellschaftskritik, insgesamt gelten sie | |
| jedoch als unheimlich unterhaltsam, das räumten nach dem Debüt selbst die | |
| renommiertesten deutschen Feuilletons ein. Erfrischend ist, dass | |
| Yaghoobifarah dabei kein bisschen fürs deutsche Feuilleton zu schreiben | |
| scheint. | |
| Die Sprache in „Schwindel“ ist tief verwurzelt in einer queeren, | |
| sexpositiven Blase der Digital Natives: Da geht es um service-tops und | |
| stone-butches, um Piss Play und Chemsex. Es wird ge-gaslighted und | |
| ge-trauma-bonded, mit Buchstabenkombinationen um sich geworfen (MILF, TERF, | |
| Y2K) und man ist nicht einfach hübsch, sondern „die menschliche Version des | |
| Instagram-Elfen-Filters“. | |
| Wer wenig Zeit im Internet oder in lesbischen Bars verbringt, könnte beim | |
| Lesen ins Stolpern kommen, aber das ist Yaghoobifarah vollkommen egal und | |
| womöglich sogar eine kleine Freude. Alle anderen werden allerlei | |
| Szeneklischees wiedererkennen („Was bist du für eine Lesbe, wenn du keinen | |
| Karabinerhaken mit deinen Schlüsseln an deiner Jeans trägst?“). | |
| Die Leserin lernt Ava kennen, als die sich gerade verkrustete Überreste | |
| nach einem Cunnilingus vom Kinn wischt. Im Hamam lösen sich diese kleinen | |
| Krümel beim Abrubbeln ihrer nassen Haut. Im besten Wortsinn schamlos | |
| schreibt Yaghoobifarah über Körper, wie sie meist nur abseits der Literatur | |
| sind: schwitzig, riechend, echt. Auch die Figuren sprechen, wie man es von | |
| ihnen erwarten würde, wenn man ihnen leibhaftig im Supermarkt begegnete. | |
| Es fällt kaum ein Satz ohne Anglizismen oder derbe Wortwahl, ständig wird | |
| „gefickt“ und wenn nicht, ist man „upgefuckt“ oder „horny“. Diese l… | |
| Alltagsnähe wird lediglich hin und wieder von überladenen Metaphern oder | |
| lyrisch anmutenden Layoutentscheidungen gestört, eine Mischung aus | |
| Tumblr-Ästhetik und Gedichtwerkstatt. Auf einigen Seite stehen etwa kaum | |
| mehr als einige lose Satzzeichen. Womöglich ein Sinnbild dafür, wie | |
| verloren die Figuren manchmal sind – lost, würde Yaghoobifarah sagen. | |
| ## Gekonntes Gegenwartsporträt | |
| Vor allem Delia kriegt nichts gebacken und ist ständig baked. Ava hält | |
| Delia insgeheim für einen Loser und wird immer abweisender. Die New | |
| Relationship Energy ist weg, also die romantische und sexuelle Luft raus, | |
| und um Delia nicht sagen zu müssen, dass Ava einfach gelangweilt ist, | |
| behauptet Ava: „Ich dissoziiere viel. Du weißt schon, wegen meinem Vater. | |
| Ist eine Traumareaktion.“ | |
| Ihr Vater verließ die Familie, als Ava ein Kind war, und in zeitgemäßer | |
| Manier greift sie gern zu therapeutischer Sprache, um jegliche | |
| Verantwortung für eigenes Verhalten von sich zu weisen. | |
| „Schwindel“ kann man weglesen wie eine queere Version der Daily-Drama-Serie | |
| „GZSZ“: Da gibt es eine erfundene Krebserkrankung, einen ausgedachten Mord, | |
| einen Schwall ausgekotzten Rotweins, und die kammerspielartige | |
| Gefangenschaft auf dem Hochhausdach nimmt ein denkbar konstruiertes Ende. | |
| Doch dieser Roman ist nicht bloß soapy Entertainment, sondern auch ein | |
| gekonntes Gegenwartsporträt. | |
| Ob Avas Therapy Speak als Verteidigungsstrategie oder Silvias Ungeschick | |
| mit nichtbinären Pronomen, Yaghoobifarah scheint die eigenen Figuren | |
| ständig zu belächeln – und liebzugewinnen. Selbst Ava, die lieber SMS | |
| ignoriert, als über Emotionen zu reden, entwickelt schwindelerregend große | |
| Gefühle, so groß, dass sie gerade mal in den Pazifik passen. Dick | |
| auftragen, das kann Yaghoobifarah, da fliegen keine Schmetterlinge, sondern | |
| direkt „Böller durch die Magengrube“. | |
| 29 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jolinde Hüchtker | |
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| Blick in die Zukunft: Dranbleiben, weitermachen | |
| Nach sechseinshalb Jahren endet diese Kolumne. Auch wenn es genug Gründe | |
| gibt, deprimiert zu sein, will die Autor*in ermutigen, weiterzukämpfen. |