# taz.de -- Neue Literaturzeitschrift „Delfi“: Wahrheit, Schönheit, Myster… | |
> Der Ullstein-Verlag hat das Magazin „Delfi“ gegründet. Im Team: Hengameh | |
> Yaghoobifarah, Fatma Aydemir, Miryam Schellbach und Enrico Ippolito. | |
Bild: Das Team hinter Delfi: Ippolito, Schellbach, Yaghoobifarah, Aydemir (v.l.) | |
Die Digitalisierung hat ein neues pathetisches Verhältnis zum Papier | |
befördert. Wer auch immer dieser Tage damit beginnt, Texte abzudrucken, | |
verkündet sein Vorhaben mit großer Geste. Das Team hinter Delfi macht hier | |
keine Ausnahme. „Sind Printmedien nicht längst am Aussterben? Und liest | |
überhaupt noch irgendwer Literatur?“, fragen sie im Editorial der ersten | |
Ausgabe und feiern implizit ihre eigene Verwegenheit. | |
Tatsächlich ist Delfi wohl ein vergleichsweise solides Unternehmen, das | |
Magazin für neue Literatur erscheint im zu Ullstein gehörenden | |
Claassen-Verlag. Auch wenn es wirtschaftlich ein Reinfall wäre, bräuchte | |
man sich vorerst keine Sorgen zu machen. Es geht dem Verlag ersichtlich | |
nicht um Geld, sondern um Profilbildung. | |
Zu diesem Zweck hat Claassen-Programmleiterin Miryam Schellbach neben | |
Spiegel-Autor Enrico Ippolito noch Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah | |
als Co-Herausgeberinnen angeworben. Die beiden damaligen taz-Kolumnistinnen | |
brachten vor vier Jahren die Anthologie „Eure Heimat ist unser Albtraum“ | |
heraus, die sich rasch als Standardwerk zur politischen und intellektuellen | |
Orientierung für all jene eta-blierte, die sich in den Debatten der | |
Mehrheitsgesellschaft nur als Objekte wiederfanden. | |
Delfi schließt hier an, mit literarischen Mitteln. Angemessen unbescheiden | |
sind in der ersten Ausgabe zum Thema „Tempel“ mit Prosa, Lyrik, Comic und | |
Essayistik vier Gattungen vertreten. Internationale Stars wie die russische | |
Lyrikerin [1][Maria Stepanova], der vietnamesisch-US-amerikanische Autor | |
Ocean Vuong oder der senegalesische Prix-Goncourt-Preisträger Mohamed | |
Mbougar Sarr sind dabei. | |
## Maximal ironiefreier Ton | |
Hinzu kommen prägende Stimmen postmigrantischer Literatur wie Olivia | |
Wenzel, [2][Deniz Utlu] oder Senthuran Varatharajah. Manchen Texten merkt | |
man etwas zu deutlich an, dass sie als Auftragsarbeiten entstanden. Enis | |
Maci stochert lustlos in ihren Gedanken zu sakralen Stätten, Reliquien und | |
Heiligen herum. Und Lauren Groff erzählt eine am posthumanistischen | |
Einmaleins orientierte Schöpfungsgeschichte, in der – Überraschung – der | |
Mensch der Böse ist. | |
Bemerkenswerter ist Senthuran Varatharajas Bericht einer Reise, die ihn | |
zugleich nach Israel, in die eigene Vergangenheit als Geflüchteter und ins | |
Innere seines Seelenschatzes führt. Und zwar vor allem wegen des maximal | |
ironiefreien Tons, den der Autor anschlägt. | |
Interessant auch die Einsichten, die [3][Eva Tepest] auf ihrer queeren | |
Bildungsreise durch Italien sammelt. Schwer verliebt in gleich zwei | |
Personen, begibt sie sich auf eine Wallfahrt entlang der Wirkungsstätten | |
lesbischer Ikonen wie die Madonna von Montevergine, die | |
Performancekünstlerin Gina Pane, aber auch Sigmund Freud, dem sie ein | |
erotisches Interesse am einstigen Intimus Wilhelm Fließ unterstellt: „Die | |
Fernbeziehung, das dramatische Ende eurer romantischen Freundschaft, deine | |
Obsession mit Träumen – it does not get more dyky than this.“ | |
Das mag die biografischen Fakten zwar verfehlen, literarisch ergibt diese | |
Eingemeindung Freuds in die queere Community Sinn. Die Sehnsucht der | |
Erzählerin richtet sich nicht weniger auf die daheimgebliebenen Geliebten | |
als auf Vorbilder für das eigene Begehren und Empfinden. Freud als Lesbe zu | |
deklarieren, lässt sich mithin als beherzten Akt sexueller Aneignung | |
verstehen. | |
## Sklaven singen ein Lied | |
Auch Mohamed Mbougar Sarr befasst sich mit Fragen des Erbes und der | |
Vergangenheit. In einer Kurzgeschichte lässt er einen alten Arzt erzählen, | |
wie er vor vielen Jahren Sklaven ein Lied singen hörte, so unbeschreiblich | |
schön, dass es kaum zu ertragen war. Es erschloss sich ihm in diesem Moment | |
„die Wahrheit, die Schönheit und das Mysterium der Welt“. Bis heute lauscht | |
er dem Nachklang des Gesangs in seiner Erinnerung. | |
Sarr zeigt auf, wie sich Versehrtheit und Zwang in Kraft und Widerstand | |
verkehren können, wie aus dem Schrecklichen das Schöne erwächst. Natürlich | |
ist es bedauerlich, dass dafür Fiktion vonnöten ist. Aber immerhin gibt es | |
sie. Solange „die Wahrheit, die Schönheit und das Mysterium der Welt“ nicht | |
zugänglich sind, muss also die Literatur herhalten. | |
8 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Leipziger-Buchpreis-an-Maria-Stepanova/!5926470 | |
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[3] /Autorin-ueber-Hierarchien-und-Sex/!5915777 | |
## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
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