# taz.de -- Abschied von der taz: Pass auf dich auf, altes Haus! | |
> Vor elf Jahren fing unsere Kolumnistin bei der taz an. Nun verlässt sie | |
> die Zeitung – und merkt, wie sehr sie diese geprägt hat. | |
Bild: An schlechten Tagen ist die taz eine „Zeit“ ohne Budget, schreibt uns… | |
Es gibt immer diesen befremdlichen Moment bei meinen Lesungen, wenn eine | |
sehr freundliche, grauhaarige Frau mit buntem Halstuch das Mikrofon | |
ergreift, um mich zu fragen: „Gab es jemanden in Ihrem Leben, der sie | |
besonders gefördert hat?“ An sich eine harmlose Frage, vielleicht etwas zu | |
persönlich, aber sie ließe sich durch eine geschickte Antwort ins | |
Poetologische verschieben: die Bücher von [1][Toni Morrison], die [2][Filme | |
von Pedro Almodóvar], die Lieder von Ahmet Kaya haben mich zu dem gemacht, | |
was ich bin. Eine Klugscheißer-Antwort, eine Nicht-Antwort eigentlich, die | |
Fragende würde sich aber nicht trauen nachzuhaken und stattdessen lächelnd, | |
insgeheim enttäuscht, nicken. | |
Was die Fragende vermutlich hören wollte: Meine Klassenlehrerin aus der | |
Siebten ermutigte mich, Geschichten zu schreiben! Unsere Nachbarin Gisela | |
hat mich immer zur Bibliothek gefahren! Die Mutter meiner Freundin Lisa gab | |
mir Hermann Hesse zu lesen! In dieser Vorstellung taucht plötzlich | |
irgendeine Deutsche bei mir auf und rettet mich aus der bildungsfernen | |
Unterschicht in die Welt des Schreibens. Ich weiß, es ist unfair der | |
Fragenden pauschal ein solches Interesse zu unterstellen, aber | |
erfahrungsgemäß erwartet das Publikum dann doch immer, dass man auch mal | |
vom guten Deutschen erzählt. | |
Trotzdem: Die Frage geht mir auf den Zeiger. Vielleicht weil sie offenlegt, | |
wie unwahrscheinlich es ist, dass ausgerechnet ich nun auf dieser Bühne | |
sitze und ich eigentlich die ganze Zeit über versuche, ebendiese Gedanken | |
wegzuschieben. | |
Das Schlimmste aber: Ich habe keine Antwort auf diese Frage, denn ich hatte | |
wirklich nie eine Gisela. Natürlich hatte ich Freund_innen, die mir zur | |
Seite standen, ich hatte eine Familie, die sich mir nie querstellte, ich | |
hatte hin und wieder eine Lehrerin, die meine Gedanken nicht grundsätzlich | |
falsch fand. Es gab aber tatsächlich sehr lange keinen Ort, an dem ich das | |
Gefühl hatte, mein Blick auf die Welt habe irgendeine Relevanz für andere. | |
Dann kam ich zur taz. Bewusst wird mir dieser Wendepunkt natürlich erst | |
jetzt, wo ich gehe. | |
## Streiten und schweigen | |
Ich kam zu dieser Zeitung vor elf Jahren als Praktikantin und verstand | |
sofort, dass ich hier mehr lernen würde als an jeder Journalistenschule. | |
Ich habe nie ein Volontariat absolviert, mir hat nie jemand erklärt, wie | |
man Tickermeldungen schreibt oder was eine gute Reportage ausmacht. Aber | |
ich weiß, wie man streitet. Ich kenne die Argumente, die ewigen | |
Fallstricke, die Dilemmas der deutschen Linken. Ich weiß, was sie triggert. | |
Ich habe gelernt, an welchem Punkt sich Streit nicht mehr lohnt und wann | |
ich unbedingt einen Standpunkt beziehen muss, weil mein Schweigen einem | |
Einverständnis gleichkäme. Denn wenn die taz eines besonders gut kann, dann | |
ist das: die eigenen Leute auf die Palme zu bringen. | |
Über die Jahre stand viel rassistischer und auch queerfeindlicher Müll in | |
dieser Zeitung. Aber die noch lauteren Gegenstimmen ließen nie lange auf | |
sich warten, und ich bin stolz darauf, wenigstens einen Teil dazu | |
beigetragen zu haben. Auch wenn eine Diskursverschiebung in den letzten | |
Jahren dazu geführt hat, dass emanzipatorische Kämpfe nunmehr als | |
antiintellektuelle „Political Correctness“ abgetan werden, bin ich froh, | |
dass die taz diesem Mainstream-Argument nur in Teilen erlegen ist und nicht | |
als Ganzes. An schlechten Tagen nämlich ist die taz eine Zeit ohne Budget, | |
an den besten Tagen, ein linkes Krawallblatt, das sich selbst nicht zu | |
ernst nimmt. | |
Für mich jedenfalls war die taz ein Ereignis. Das Schreiben wäre nie zu | |
meinem Lebensmittelpunkt geworden, wenn diese Zeitung mich nicht liebevoll | |
dazu eingeladen und manchmal auch regelrecht dazu genötigt hätte. Ich fand | |
hier Freund_innen und Genoss_innen, denen ich immer verbunden bleiben | |
werde. Aber für mich ist es nun Zeit weiterzuziehen. Also pass auf dich | |
auf, altes Haus. Ich trage dich in meinem Herzen als meine ganz persönliche | |
Gisela. | |
29 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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