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# taz.de -- Journalismus und sexualisierte Gewalt: Das Wagnis, zu sprechen
> Wer über prominente Männer und sexualisierte Gewalt berichtet, erntet
> Hass. Nicht die Fälle gelten als das Problem, sondern das Schreiben
> darüber.
Bild: Der Versuch, Journalist_innen mundtot zu machen, ist von Anfang an ein #M…
Die unangenehmsten Reaktionen kommen immer zum Thema sexualisierte Gewalt.
Egal, ob es sich um Vergewaltigungsvorwürfe gegenüber prominenten Männern
handelt oder um den Umgang mit dem Thema Konsens und Sex in der linken
Szene: Wer als Journalist_in über diese Fälle berichtet, sei es auch nur im
Konjunktiv oder anonymisiert, wird mit so vielen und teilweise so
hässlichen Zuschriften überhäuft, dass er_sie (meistens sie) es sich in der
Folge dreimal überlegen wird, ob ein Artikel die Kopfschmerzen, die bereits
vorprogrammiert sind, wert ist.
Je reicher der mutmaßliche Täter, desto schneller flattert dann auch die
Post von dessen Anwälten herein. Aber verwundernd ist doch viel eher, wie
Unbeteiligte häufig Partei ergreifen für Beschuldigte, als sei nicht die
Allgegenwärtigkeit sexualisierter Gewalt das Problem, sondern das Sprechen
und Schreiben darüber.
Natürlich geht es auch immer um das juristische Problem der
Verdachtsberichterstattung. Beweislage und Zeug_innenaussagen müssen
geprüft, Beschuldigte konfrontiert werden, um mit journalistischer
Neutralität über solche Fälle berichten zu können. Wie aber steht es um die
Kolumnenform oder den Meinungsbeitrag? Diese Formate leben ja nicht von
investigativen Ansprüchen und Objektivität, sondern davon, Debatten, die
sowieso in der Welt sind, genauer anzuschauen und zu bewerten. Sie wollen
parteiisch sein, das ist in ihrem Kern angelegt. Und man kann durchaus eine
Haltung formulieren, ohne falsche Tatsachen zu behaupten. Das ist ja das
Interessante an [1][Fällen von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch]:
Sie sind niemals Einzelfälle, wir alle sind in irgendeiner Weise in sie
verwickelt. Die Frage ist nur, inwieweit wir bereit sind, uns damit
auseinanderzusetzen.
Wenn es nach den Anwälten der Beschuldigten, aber auch nach den fleißigen
Leser_innen und Kommentator_innen solcher Beiträge ginge, sollte man
Vorwürfe sexualisierter Gewalt gar nicht erst öffentlich thematisieren
dürfen, bis ein gerichtliches Urteil vorliegt. Das ist aus vielerlei
Hinsicht völlig absurd, denn selten kommt es überhaupt zu einem
Gerichtsverfahren, und noch viel seltener gibt es eine Beweislage, die es
dem Gericht ermöglichen würde, einen Täter zu verurteilen. Was
Berichterstattung aber möglich macht, gerade wenn es um prominente
Beschuldigte geht: Es kommen neue Betroffene hinzu, die sich bislang nicht
getraut hatten, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
## Scham überwinden
Weil ihr Umfeld ihnen vielleicht einredete, sie seien selbst schuld, wenn
sie sich auf Aftershowpartys mit Rockstars herumtrieben. Weil sie sich
vielleicht schämten, mit dieser Geschichte öffentlich assoziiert zu werden.
Weil sie bereits wissen, dass niemand ihnen glauben wird. In den meisten
Fällen aber ist es schlicht das Unsichtbarbleiben der Systematik dahinter:
Niemand ahnt, dass auf jedem Konzert dieser hypothetischen Band jungen
Mädchen K.O.-Tropfen verabreicht werden und sie schlicht nicht in der Lage
sind, Einvernehmen zu formulieren, wenn der Frontsänger der hypothetischen
Band sich ihnen sexuell nähert. Niemand weiß, dass sie sehr viele sind, bis
auf Social Media erste Erfahrungsberichte auftauchen und Journalist_innen
das Thema aufgreifen und nach weiteren Betroffenen recherchieren.
Der Versuch, Journalist_innen mundtot zu machen, ist nicht nur von Anfang
an schon ein Begleitphänomen der #Metoo-Bewegung gewesen, er scheint auch
nahtlos anzuknüpfen an die jahrhundertealte Praxis der Beschämung von
Überlebenden sexualisierter Gewalt, die es wagen, über ihre Erfahrung zu
sprechen. Die französische Schriftstellerin Virginie Despentes fasste
dieses grundsätzliche Misstrauen einmal sehr treffend in diesem schlichten
Satz zusammen: „Mein Überleben an sich spricht gegen mich.“
3 Jun 2023
## LINKS
[1] /Journalistinnen-ueber-MeToo-Recherchen/!5821017
## AUTOREN
Fatma Aydemir
## TAGS
Kolumne Red Flag
Verdachtsfall
Sexualisierte Gewalt
Schwerpunkt #metoo
IG
GNS
Medienethik
Sexualisierte Gewalt
Klimajournalismus
Kolumne Red Flag
sexuelle Belästigung
Schwerpunkt #metoo
Schwerpunkt #metoo
Schwerpunkt #metoo
Vergessenwerden
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