# taz.de -- Journalistinnen über MeToo-Recherchen: „Sexismus ist branchenuna… | |
> Ann-Katrin Müller und Pascale Müller haben viele MeToo-Fälle aufgedeckt. | |
> Ein Gespräch über lange Recherchen und die Nachteile prominenter Fälle. | |
Bild: MeToo-Symbolik auf der Berlinale 2021: Mittelfinger der Schauspielerin Ju… | |
taz: Frau Ann-Katrin Müller, im September veröffentlichte der Spiegel eine | |
Recherche [1][zu Luke Mockridge]. Eine Ex-Freundin beschuldigte ihn der | |
Vergewaltigung, das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt – weitere haben | |
ihn der sexuellen Belästigung beschuldigt. Es erfuhr viel Aufmerksamkeit. | |
Was bedeutet es, zu einer Person zu recherchieren, die so in der | |
Öffentlichkeit steht? | |
Ann-Katrin Müller: Ehrlicherweise hat das für mich keinen großen | |
Unterschied gemacht, ob die Person bekannt und dadurch mächtig ist oder | |
„nur“ in dem Kosmos mächtig ist, in dem er oder sie sich befindet, wie der | |
„Tatort“-Koordinator Gebhard Henke. Wir haben die Recherche so behandelt | |
wie alle MeToo-Recherchen und haben uns vorher gefragt: Was heißt das für | |
den Ruf der Person? Haben wir am Ende genug, um zu sagen: „Das ist | |
berichterstattungswürdig“? Und es muss natürlich ein öffentliches Interesse | |
geben. | |
Macht das öffentliche Interesse es leichter, Redaktionen von Recherchen zu | |
überzeugen? | |
Pascale Müller: Ich glaube nicht, dass es an einer Person hängt, ob | |
Redaktionen eine Geschichte für relevant und veröffentlichungswürdig | |
halten. MeToo-Berichterstattung hat immer auch [2][einen | |
gesellschaftspolitischen Aspekt], es geht nicht einfach nur um einzelne | |
mutmaßliche Straftaten, sondern auch darum, welche Strukturen sie | |
hervorrufen. Wenn zum Beispiel mein Nachbar gewalttätig gegenüber seiner | |
Frau ist, würden wir als Journalist:innen in der Regel nicht groß | |
darüber berichten, über häusliche Gewalt als strukturelles Problem jedoch | |
schon. | |
AKM: Es ist nicht so, dass die Redaktion sagt: „Geil, berühmte Menschen | |
klicken gut, schafft mal Fälle ran!“ Das funktioniert so auch gar nicht, | |
man findet die Fälle nicht einfach so. Es sind wahnsinnig aufwendige | |
Recherchen, man ist meistens abends und am Wochenende beschäftigt, weil die | |
Frauen natürlich auch einen Job haben und nur reden können, wenn ihnen | |
keine Kolleg:innen zuhören und sie gerade emotional dazu in der Lage | |
sind. Die Recherchen kosten viel juristischen Aufwand im Nachgang, man ist | |
monatelang beschäftigt. Das macht man nicht leichtfertig, sondern nur, wenn | |
man sieht, da hat eine Person offenbar über Jahre hinweg immer wieder | |
Grenzen überschritten. | |
Im Fall Mockridge entschied das Landgericht Hamburg, zentrale Teile des | |
Textes müssten offline gehen, wegen unzulässiger | |
Verdachtsberichterstattung. Wie ist das für Sie als Autorin? | |
AKM: Das ist schon etwas frustrierend, weil bei einem gleichwertigen | |
Gericht, dem Landgericht Köln, das Gegenteil im Hinweisbeschluss stand. Der | |
Anwalt von Luke Mockridge hatte sich dorthin zuerst gewandt und am Ende nur | |
bei einem Punkt recht bekommen, da haben wir vier Sätze vorläufig | |
gestrichen. Beim Rest sah die Kammer unsere Berichterstattung als zulässig | |
an. Doch die Kanzlei ist dann mit den anderen Punkten noch einmal in | |
Hamburg vor Gericht gezogen und die haben den Fall angenommen. Das war | |
schon überraschend. Damit nimmt man uns ja die prozessuale | |
Waffengleichheit. Es dürfte unserer Meinung nach nicht sein, dass die, über | |
die wir berichten, von Gericht zu Gericht ziehen können, bis sie eins | |
finden, das ihnen mehr zuspricht. Wir kämpfen dagegen juristisch an und | |
gehen sowohl inhaltlich als auch formell dagegen vor, notfalls auch bis zum | |
Bundesverfassungsgericht. | |
Die ersten großen MeToo-Fälle kamen aus der Filmbranche. In Deutschland gab | |
es [3][Aufdeckungen am Theater], im Leistungssport oder im Journalismus, | |
wie jüngst der Fall Reichelt. Warum aber scheinen sich die Öffentlichkeit | |
und Journalist:innen weniger für sexualisierte Gewalt fernab vom | |
Glamour zu interessieren? | |
PM: Ich würde infrage stellen, ob die genannten wirklich „Glamour“-Branchen | |
sind. Auf materieller Ebene bestätigt sich das nicht. In all diesen | |
Branchen gibt es einen großen Anteil sehr junger, oft weiblicher und | |
schlecht bezahlter Arbeitnehmerinnen. Menschen, mit denen ich für meine | |
Recherche zum Machtmissbrauch durch einen Redakteur beim Tagesspiegel | |
gesprochen habe, Praktikantinnen, Volontärinnen, waren nicht nur sehr | |
abhängig vom niedrigen Einkommen, sondern auch von einer Weiterempfehlung | |
durch ihren Chef. Das waren Menschen, die sich nicht besonders gut wehren | |
konnten in diesem System. Aber immerhin haben sie die Telefonnummer einer | |
Journalistin. Wenn ich eine Reinigungskraft bin, gibt es vielleicht auch | |
ein starkes Machtgefälle zwischen mir und meinem Vorgesetzten, aber mir | |
fehlt das Tool, die Nummer zur Öffentlichkeit. | |
Also gibt es Sexismus und Machtmissbrauch in Arbeiter:innenbranchen | |
nicht weniger, sondern es wird nur weniger darüber gesprochen? | |
PM: Das ist schwer zu beantworten, weil wir keine guten Daten dazu haben. | |
Es gibt repräsentative Umfragen zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, | |
die zeigen, dass viele Frauen so etwas erleben. Das sind Anknüpfungspunkte, | |
wo man sagen kann: Sexismus gibt es nicht nur in den Bereichen, über die | |
wir mehr schreiben. | |
AKM: Ich würde sagen, wir leben alle in derselben Gesellschaft [4][und ich | |
glaube nicht, dass Sexismus branchenabhängig ist.] Es gibt unterschiedliche | |
Faktoren, die Machtmissbrauch begünstigen: In der einen Branche sind das | |
der Aufenthaltsstatus oder fehlende Sprachkenntnisse, die ein | |
Ausbeutungsverhältnis und damit auch unguten Boden für sexualisierte Gewalt | |
schaffen, bei der anderen, dass zum Beispiel ein Künstlergenie heroisiert | |
wird und niemand schlechte Geschichten über es glauben will. | |
Hat die MeToo-Berichterstattung ein Klassismusproblem? | |
PM: Es ist ein bisschen verkürzt, der Berichterstattung Klassismus | |
vorzuwerfen. Wenn eine Person Angst hat, durch das Sprechen über | |
sexualisierte Gewalt ihren Job oder ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlieren, | |
ist das ernst zu nehmen. Das sind Probleme, die schon vorher da waren. Die | |
Sorgen können so groß sein, dass die Person möglicherweise an einer | |
Veröffentlichung kein Interesse mehr hat. Die Benachteiligung dieser | |
Personen kommt also nicht zwangsläufig daher, dass Journalist:innen | |
sich nicht für sie interessieren – wir können die bestehende | |
Marginalisierung aber nicht einfach aushebeln. Das ist ein Grund, warum es | |
aus bestimmten Branchen nicht so viel Berichterstattung gibt. | |
AKM: Es wird noch nicht genug über alle Milieus gesprochen. Ich glaube | |
aber, die MeToo-Berichterstattung hat sich diversifiziert in den letzten | |
Jahren. Das ist gut. Es wäre schön, wenn sich mehr Journalist:innen | |
dessen annehmen würden. Wenn der Chef eines Krankenhauses Pflegerinnen | |
angrabscht, sollte das nichts sein, wovor die Regionalzeitung | |
zurückschreckt. Es ist aber auch immer noch so, dass sich Leute mit | |
Promi-Fällen eher beschäftigen, weil sie die Person schon einmal im | |
Fernsehen gesehen haben. Wenn es dazu beiträgt, eine Debatte zu führen, | |
sollten auch weitere Promi-Fälle recherchiert werden. | |
Wie unterscheidet sich eine MeToo-Recherche im Arbeiter:innenmilieu | |
von einer unter Promis? Pascale Müller, 2018 deckten Sie gemeinsam mit | |
Ihrer italienischen Kollegin Stefania Prandi sexualisierte Gewalt an | |
Erntearbeiterinnen auf. | |
PM: Für mich liegt der Unterschied vor allem darin, dass ich oft mit | |
Menschen zu tun habe, die nie mit der Presse in Kontakt waren. Insbesondere | |
bei der Recherche war es notwendig, zu erklären, was die Konsequenzen von | |
einer Veröffentlichung sein könnten. Damit meine ich nicht die für die | |
Beschuldigten, sondern für die Interviewpartner:innen. | |
Gibt es etwas, das alle Betroffenen von sexualisierter Gewalt vereint, | |
egal, ob Schauspielerin oder Erntehelferin? | |
PM: Scham- und Schuldgefühle habe ich bei vielen erlebt. | |
AKM: Ja, aber auch dieses Moment der Selbstermächtigung, den die | |
Berichterstattung schafft. Die Betroffenen waren lange passiv und werden | |
nun zum ersten Mal aktiv. Diese Entscheidung, zu sagen: „Ich führe jetzt | |
dieses Gespräch, auch wenn man es im Hintergrund macht und danach anonym | |
bleibt“, ist für sie wichtig. Und: Keine Frau, die ich kenne, hat daraus im | |
Nachhinein Profit geschlagen oder eine Karriere darauf aufgebaut. Diese | |
ganzen dämlichen Vorurteile, die stimmen alle nicht. | |
Was braucht es, damit mehr Betroffene sich aus der Passivität befreien und | |
sprechen? | |
PM: Ich weiß nicht, ob es für alle Betroffenen gut wäre, öffentlich darüber | |
zu sprechen. Wichtig wäre es, dass es auch außerhalb der Öffentlichkeit | |
Räume gibt, wo solche Vorfälle behandelt werden können – unabhängige | |
Ansprechpartner:innen in Unternehmen zum Beispiel. | |
AKM: Das sehe ich auch so. Man muss aufklären. Ich sage den Betroffenen | |
ehrlich: Die Berichterstattung löst etwas aus, das wird kein Spaziergang. | |
Es gibt leider oft einen Backlash gegen Frauen, die den Mund aufmachen. Das | |
ist Teil eines Kampfes gegen die Gleichberechtigung. Es wird dann von | |
Pranger und Lynchjustiz gesprochen. Viele Leute tun immer so, als würden | |
wir uns ein paar Wochen mit so einem Text beschäftigen und ihn dann einfach | |
so raushauen. Ich weiß nicht, wie viele Recherchen ich schon beerdigt habe, | |
einfach weil die Beweislage nicht gut genug war. Man steckt viel Zeit | |
hinein und am Ende kommt nur ein Drittel der Details ans Tageslicht. Da ist | |
noch viel Aufklärungsarbeit nötig, deshalb gibt man auch Interviews wie | |
dieses. | |
24 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Vergewaltigungsvorwurf-gegen-Mockridge/!5791214 | |
[2] /Missbrauch-in-der-Modebranche/!5812238 | |
[3] /Verdacht-des-sexuellen-Missbrauchs/!5816302 | |
[4] /Machtmissbrauch-in-Baden-Wuerttemberg/!5816040 | |
## AUTOREN | |
Nele Sophie Karsten | |
## TAGS | |
Schwerpunkt #metoo | |
Machtmissbrauch | |
Investigativer Journalismus | |
Klassismus | |
Schwerpunkt Paralympics 2024 | |
Kolumne Red Flag | |
Schwerpunkt #metoo | |
Sexuelle Übergriffe | |
Erntehelfer | |
Sexuelle Übergriffe | |
Schwerpunkt #metoo | |
Schwerpunkt #metoo | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nach Kommentaren über Para-Athlet*innen: Sat.1 stoppt TV-Show mit Mockridge | |
Luke Mockridge sorgt mit verunglimpfenden Kommentaren für Empörung. Seine | |
Entschuldigung hilft nicht, Sat.1 stoppt die TV-Show vor Erstausstrahlung. | |
Journalismus und sexualisierte Gewalt: Das Wagnis, zu sprechen | |
Wer über prominente Männer und sexualisierte Gewalt berichtet, erntet Hass. | |
Nicht die Fälle gelten als das Problem, sondern das Schreiben darüber. | |
#MeToo in der Schweizer Medienbranche: Klima des Wegschauens | |
Ein Sexismusskandal erschüttert das Schweizer „Tages-Anzeiger“-Magazin. | |
Wird sich dadurch etwas an der Branchenkultur ändern? | |
Sexismus und Politik: #MeToo bei der Linken | |
Parteichefin Wissler wehrt sich gegen Vorwürfe, auf Beschwerden wegen | |
sexueller Belästigung nicht rechtzeitig reagiert zu haben. | |
Corona-Ausbruch auf Erntefeld: Sie muss nicht zahlen | |
78.000 Euro sollte eine ukrainische Erntehelferin ohne Versicherung für | |
ihre Coronabehandlung zahlen. Nun erlässt ihr die Krankenkasse die | |
Rechnung. | |
Machtmissbrauch in Baden-Württemberg: Beförderung gegen Sex | |
Der Landespolizeiinspekteur von Baden-Württemberg, Andreas Renner, wurde | |
angezeigt. Er soll einer Kollegin Beförderung gegen Sex angeboten haben. | |
Missbrauch in der Modebranche: Die unguten alten Zeiten | |
Der Designer Wolfgang Joop verharmlost sexualisierte Gewalt. Trotz seiner | |
Entschuldigung wird dadurch gesellschaftlicher Stillstand sichtbar. | |
Vergewaltigungsvorwurf gegen Mockridge: Das Opfer bin ich | |
Comedian Luke Mockridge wehrt sich in einem Statement gegen | |
Vergewaltigungsvorwürfe. Dabei greift er auf alte Argumentationsmuster | |
zurück. |