# taz.de -- Klimakrise im Journalismus: Objektivität ist eine Illusion | |
> Klima-Journalist_innen wird oft vorgeworfen, aktivistisch zu handeln. | |
> Dabei berufen sie sich auf Fakten. Wo beginnt und wo endet das | |
> Subjektive? | |
Bild: Greta Thunberg, schwedische Klimaaktivistin, spricht mit Medienvertretern | |
[1][Texten über das Klima] wird häufig vorgeworfen, zu viel Haltung zu | |
zeigen und nicht objektiv genug zu sein. Dabei sind wir an so einem | |
kritischen Punkt in der Klimakrise angekommen, dass die Plattformen, die | |
nicht ernsthaft über sie schreiben, der unterlassenen Hilfeleistung | |
bezichtigt werden sollten. | |
Aus philosophischer Perspektive ist Objektivität ohnehin kein angemessener | |
Standard. Menschen gehen immer mit einem Set an Überzeugungen in die Welt, | |
die die Objektivität aller Aussagen einschränkt. | |
Im Frühjahr dieses Jahres ist die Debatte, wo Aktivismus anfängt und | |
Journalismus aufhört, über den Aktivisten und ehemaligen Journalisten | |
Raphael Thelen erneut entfacht. Er erzählte im Podcast [2][„Holger ruft an | |
…“], dass er nicht mehr frei übers Klima schreiben könne, und wechselte | |
schließlich die Seiten. Er schrieb für Medien wie Spiegel oder Zeit und ist | |
nun Teil der Letzten Generation. | |
Einige Redaktionen hätten seine Texte kritisiert und schließlich zensiert, | |
da sie nicht objektiv gewesen seien, obwohl er lediglich die Fakten, wie | |
etwa die des Weltklimarats, ernst genommen und debattiert habe. Die harte | |
Trennung zwischen Aktivismus und Journalismus sei artifiziell und nütze den | |
Leuten, die nicht wollten, dass Klima in großem Umfang in den Medien | |
stattfindet. | |
## Kein journalistischer Meinungstext ist kein Oxymoron | |
Das sei beispielsweise der Lobby-Arbeit der fossilen Industrie zu | |
verdanken. Er sagt auch, dass das Klimathema ungerechtfertigt eine | |
besondere Stellung bekommen habe und schnell die Aktivismuskarte gezückt | |
würde. | |
So sprach Ulf Poschardt von einer „Kernfusion von Klimajournalismus und | |
Klimaaktivismus“, als der Stern und die taz jeweils eine gesamte Ausgabe | |
dem Klima widmete. Auch den öffentlich-rechtlichen Sendern wird etwa von | |
der Neuen Zürcher Zeitung eine [3][Indoktrinierung der | |
Klimaberichterstattung] vorgeworfen. | |
Journalismus habe objektiv zu sein. Das stimmt natürlich, andererseits ist | |
ein journalistischer Meinungstext kein Oxymoron. Es gibt Meinungsstücke, | |
Kommentare oder Kolumnen, die trotz ihrer Haltung nicht als weniger | |
journalistisch bezeichnet werden. Trotzdem: Egal um welchen Text es sich | |
handelt, absolute Objektivität ist immer ein unrealistischer Standard. | |
## Das Wort „Krise“ ist nicht objektiv | |
Es gibt Millionen von Ereignisse, über die man berichten könnte, doch nur | |
das, was die Öffentlichkeit, meine Kolleg_innen und ich für wichtig | |
halten, wird geschrieben. Auch wenn es die Klimakrise offensichtlich gibt, | |
wird nicht über sie geschrieben, weil sie ein Faktum ist, sondern weil sie | |
wichtig ist. Objektivität geht hier bereits verloren, wenn man die | |
normative Entscheidung trifft: Was ist relevant, was ist irrelevant? | |
Gleichzeitig wird Objektivität vernachlässigt, wenn man die Klimakrise als | |
solche bezeichnet. Die Tatsache, dass ich sie „Krise“ nenne, zeigt, dass | |
ich sie für problematisch halte. Somit ist das Wort nicht objektiv. Das ist | |
nicht ein Problem, sondern unvermeidbar. Der Objektivitätsstandard beim | |
Klimathema ist daher wie auch bei anderen unrealistisch. | |
Subjektivität beginnt, bevor man explizit eine Meinung ausdrückt. Sie kann | |
nicht umgangen werden. Absolute Objektivität ist eine Illusion. Viel mehr | |
funktioniert das Ganze auf einem Spektrum: auf der einen Seite die | |
Objektivität, auf der anderen Subjektivität – oder eben Haltung. Mal hat | |
ein Text mehr vom einen, mal mehr vom anderen. So gesehen gibt es nicht | |
wirklich eine klare Trennung zwischen „journalistisch-objektiven“ Stücken | |
und Texten mit Haltung. | |
## In die Szene eintauchen, um ehrlich über sie zu schreiben | |
Es gibt Ausschlusskriterien, ab wann man zu involviert in einem Thema ist, | |
um darüber zu schreiben, oder wann ein Text zu subjektiv ist. | |
Parteimitgliedschaft, Verwandtschaft und finanzielle Profitabilität zum | |
Beispiel. | |
Doch Teil einer Gruppe zu sein, über die man schreibt, kann auch nützlich | |
sein, wie [4][Hunter S. Thompson] über seine Recherchen im Drogendistrikt | |
San Franciscos in den 1960er Jahren schreibt. Ihm zufolge müsse man in eine | |
Szene eintauchen und Teil von ihr werden, um ehrlich über sie zu | |
schreiben. | |
Das Wort „ehrlich“ sollte hervorgehoben werden. Eine Autorin, die die | |
Folgen der Klimakatastrophe – vielleicht sogar im Rahmen aktivistischer | |
Arbeit – aus erster Hand gesehen hat, kann auf angemessene und ehrliche | |
Weise vermitteln, wie schwerwiegend diese Folgen sind, und Leser_innen | |
informieren. Diese Texte als aktivistisch zu bezeichnen, wird dem Ausmaß | |
der Klimakrise nicht gerecht. | |
Menschen, die von spezifischen Problemen betroffen sind, verfügen über | |
einzigartiges Wissen über diese Probleme. Sie haben einen besonderen | |
epistemischen (das Wissen betreffenden) Zugang, weil sie die besondere | |
Unterdrückung, die ihre Gruppe betrifft, oft aus erster Hand erfahren. | |
## Fakten werden verschieden interpretiert | |
Frauen schreiben über sexuelle Gewalt an Frauen, PoCs über Rassismus oder | |
Queers über LGBTQ+-Rechte. Wir empfinden solche Einblicke bei gewissen | |
Themen als besonders wertvoll. Niemals würde man in solchen Fällen sagen, | |
dass die Autorin Eigeninteressen in ihren Texten vertritt. Der Unterschied | |
ist, die Klimakrise betrifft uns alle, auch wenn viele es nicht wahrhaben | |
wollen. | |
Sicher gibt es gewisse Länder und Schichten, die zuerst unter den Folgen | |
der Klimakrise leiden werden und es bereits tun. Doch letztlich ist es ein | |
universales Problem, über das auch als solches berichtet werden sollte. Die | |
Klimakrise ist wissenschaftlicher Konsens, also warum nicht im | |
Journalismus? | |
Wenn eine Information auf verschiedene Menschen trifft, kann sie auf | |
unterschiedliche Art interpretiert werden. Obwohl es die gleiche | |
Information ist, kann sie verschieden wahrgenommen und sogar zu | |
gegenteiligen Überzeugungen führen. | |
## Den Verweiger_innen Anti-Klima-Aktivismus vorwerfen | |
Wichtig ist, zu betrachten, welche Menschen wie interpretieren. Wenn uns | |
Expert_innen darauf hinweisen, dass die Fakten ernst zu nehmen sind und | |
Ideolog_innen oder Profiteur_innen die Klimakrise leugnen, ist klar, | |
wer hier die realistischere Einschätzung vornimmt. | |
Es wird diesen Menschen ein Gefallen getan, wenn man nicht über die | |
Klimakrise schreibt und stattdessen eine deplatzierte Debatte über Haltung | |
führt. Ein aktuelles Beispiel findet man [5][in der FAZ], die ARD und ZDF | |
vorwirft, „Greenwashing“ zu betreiben. Statt den Plattformen, die sich mit | |
der Klimakrise auseinandersetzen, vorzuwerfen, dass sie zu viel Haltung | |
zeigen, wäre es zutreffender, denen, die es nicht tun, | |
Anti-Klima-Aktivismus vorzuwerfen. | |
Wichtig ist, dass sich die, die schreiben, keinen Vorteil verschaffen und | |
sich nicht weigern, zu kritisieren, wenn etwas passiert, das kritikwürdig | |
ist. Wenn man das Wort „Aktivismus“ so schnell um sich wirft, ist auch | |
derjenige, der über Diktaturen schreibt, Demokratieaktivist und überhaupt: | |
Betreiben die meisten Journalist_innen nicht Wahrheitsaktivismus? | |
Vielleicht ist diese Art von (vermeintlichem) Klimaaktivismus nicht so | |
schlimm. | |
17 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-Klima-im-Journalismus/!5949477 | |
[2] https://uebermedien.de/80541/warum-schmeisst-man-als-journalist-hin-um-klim… | |
[3] https://www.nzz.ch/feuilleton/und-taeglich-winkt-der-klimaleugner-ard-und-z… | |
[4] /Das-Ich-im-Journalismus/!5032682 | |
[5] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/was-ard-und-zdf-sich-leisten-… | |
## AUTOREN | |
Valérie Catil | |
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