# taz.de -- Podcasterin Mascha Jacobs: Die Frau mit den Bücherstapeln | |
> Einmal im Monat trifft sich Mascha Jacobs mit Gästen, um für ihren | |
> Podcast „Dear Reader“ über Literatur zu sprechen. Es entstehen spannende | |
> Gespräche. | |
Bild: Die Podcasterin Mascha Jacobs empfängt ihre Gäste in ihrer Berliner Alt… | |
Mit Elfriede Jelinek die Nacht durchtanzen, im Berghain oder im Tresor, | |
jedenfalls in einem richtigen Berliner Club, dunkel, eng. Diese Szene | |
erschien Mascha Jacobs vor einigen Jahren im Traum. | |
Vielleicht würde sie [1][die österreichische Literaturnobelpreisträgerin] | |
im Morgengrauen noch zu sich nach Hause einladen, ihr am Küchentisch Sekt | |
und Kirschkuchen anbieten, wie ihren anderen Gästen. Das Aufnahmegerät | |
anschalten, nach Lieblingsbüchern fragen. Bei Jacobs waren schon so einige | |
Literaturstars zu Gast, Jelinek war noch nicht dabei, aber träumen darf man | |
ja wohl. | |
Käme Jelinek eines Tages tatsächlich zu Besuch, liefe sie in Berlin die | |
Treppen eines Pankower Altbaus hinauf, in dessen Hausflur langsam die Farbe | |
von den Wänden blättert. Und dann säße Mascha Jacobs ihr an der knallgelben | |
Plastiktischdecke gegenüber, so, wie Jacobs jetzt mir gegenübersitzt: im | |
Jeanshemd, der Blick fest. | |
Seit mehr als siebzig Folgen lädt Jacobs für ihren Podcast „Dear Reader“ | |
Autor*innen ein. Sie spricht mit ihnen über das Lesen und darüber, wie | |
es sie verändert. Das funktioniert so gut, weil Jacobs ihre Gäste verehrt. | |
Ein echtes Fangirl | |
Wenn Jacobs zu Beginn einer Podcastfolge einen Gast vorstellt, gleicht das | |
oft Liebesbriefen. „Ich bin ein echtes Fangirl“, sagte sie über [2][den | |
Kulturtheoretiker Klaus Theweleit]. Den [3][Schriftsteller Tijan Sila] | |
würde sie „sofort heiraten“. Sie gerate bei ihren Gästen manchmal in eine | |
„obsessive Verliebtheit“. | |
„Dear Reader“ ist Begeisterung pur. Dabei kommt nicht unbedingt | |
Literaturkritik heraus, sondern ein tatsächliches Gespräch, das oft | |
spannender ist. Die Süddeutsche Zeitung nannte den Podcast mit einigen | |
Tausend Hörer*innen im vergangenen Jahr „die interessanteste | |
Literatursendung, die es im Moment in deutschsprachigen Medien gibt“. | |
Aus dem Wohnzimmer schallt der Soul-Hit „Ain’t Nobody“ in die Küche | |
herüber. Radio, das liebt Jacobs schon lange, aber „Podcasterin sein“ | |
klinge seltsam. Womöglich, weil man bei „Podcast“ noch immer eher an zwei | |
Typen denkt, die Witze machen und das Content nennen, nicht an die | |
Bücherstapel, die Jacobs vor jedem ihrer Gespräche aufschichtet, die | |
tagelange Recherche zu jedem Gast, die handschriftlichen Notizen, die | |
während der Aufnahme vor der Gastgeberin liegen wie ein halbes Archiv. | |
Erste Radiobeiträge als Studierende | |
Bevor zu Beginn der nuller Jahre ihr erster Beitrag im Bochumer Uni-Radio | |
lief, war Jacobs eine Woche krank vor Nervosität. Und danach noch eine: vor | |
Scham. Sie studierte Literatur und Geschichte, später arbeitete sie in | |
München für den „Zündfunk“ des Bayrischen Rundfunks und die Angst vor dem | |
Mikrofon legte sich. | |
„Meine Hauptaufgabe ist, dafür zu sorgen, dass meine Gäste sich | |
wohlfühlen“, sagt sie heute über die Podcastaufnahmen. Deswegen gibt es den | |
Kuchen und vielleicht ein Glas Sekt, mindestens aber eine Tasse Kaffee, | |
bevor es an die Mikrofone geht. Der Trick ist, auch etwas von sich selbst | |
preiszugeben. So, wie sie mir jetzt sagt, dass ihre Stimme ins Mädchenhafte | |
kippt, wenn sie nervös ist. | |
Man hört ihr gerne zu, denn Jacobs spricht über Texte wie über kleine | |
Lebewesen. Vor einigen Wochen war die Schriftstellerin Maren Kames zu Gast, | |
über deren [4][lyrischen Roman „Hasenprosa“] Jacobs ins Mikrofon sagte, | |
„mal tropft die Sprache, bis sie fast stillsteht, mal rast sie | |
schwallartig“. | |
Man sieht die Sprache dann förmlich vor sich, wie sie rast. Doch besonders | |
gern lässt Jacobs die Schriftsteller*innen selbst reden. Sie | |
unterbricht nie, bloß um selbst mal wieder etwas zu sagen. Vielleicht | |
scheinen klassische Podcaster-Assoziationen für Jacobs auch deshalb schräg. | |
Die Texte ihres Lebens | |
Jeden ihrer Gäste fragt Jacobs nach den Texten seines Lebens. Die | |
Philosophin [5][Eva von Redecker] brachte eine 800-Seiten-Biografie über | |
Hannah Arendt mit, Maren Kames einen Rapsong. Selten bringt jemand einen | |
Text mit, auf den Jacobs keine Lust hat, dann blättert sie eher so durch. | |
Den Abenteuerroman von Jack London etwa, den die österreichische Autorin | |
Barbi Marković vorschlug – „bei aller Liebe für sie, der hat mich | |
schrecklich gelangweilt“. Meistens aber vergräbt Jacobs sich in die Texte, | |
die anderen etwas bedeuten. | |
Der Bücherstapel, mit dem sie sich auf ihren nächsten Gast vorbereitet, | |
liegt schon im Wohnzimmer bereit. Sie liest jeden Verweis, geht jeder | |
Assoziation nach. „Ich bin ein totaler Over-Preparer, das muss sich ändern, | |
wenn ich groß bin“, sagt die 46-Jährige. | |
Will man wissen, welches die Texte ihres eigenen Lebens seien, gibt Jacobs | |
zu: „Das ist eine unmögliche Frage!“ Dann legt sie trotzdem zwei Bücher a… | |
den Küchentisch. Eigentlich habe sie Roland Barthes’ „Die Vorbereitung des | |
Romans“ aus dem Regal nehmen wollen, aber das sei ihr zu prätentiös | |
vorgekommen. Stattdessen liegen dort [6][„Minihorror“ von Barbi Marković,] | |
einfach weil es Spaß bringt, und der Briefroman „Von Paul zu Pedro“ von | |
Franziska Gräfin zu Reventlow – das Buch, das sie am öftesten verschenkt. | |
Einen Satz daraus hat sie auf einem Zettel notiert, den sie nun vorliest | |
und lacht, weil er so gut passt: „Ich stelle mir bei allen Lebenslagen, die | |
mir peinlich sind, gerne vor, dass ich nur eine Rolle spiele, eben jetzt | |
diese oder jene spielen muss, die mir nicht recht liegt.“ | |
„Gewisse männliche Schriftsteller“ | |
Jacobs ist zwar nicht gerne prätentiös, aber sie kann es sein. Wenn | |
„gewisse männliche Schriftsteller“ zu Gast seien, holt sie diese Fähigkeit | |
manchmal hervor, erzählt sie, während sie sich eine Zigarette dreht. Um | |
sich zu behaupten, staple sie deren ganzes Werk vor sich auf und lasse | |
schon mal ein Barthes-Zitat fallen. | |
Jacobs duckt sich unter den pinkfarbenen Sonnenschirm auf dem Balkon und | |
raucht, es ist wieder so ein Tag, den man für den letzten warmen des Jahres | |
hält. Die Tür zum Wohnzimmer steht offen, darin hat sie ihre Bücher nach | |
Farben sortiert, „visuelles Gedächtnis“. Wie ihre Plattensammlung kommen | |
auch die dreizehn Bände des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ von | |
ihrem Vater, ein Geschenk zum Studienabschluss. | |
„Kleinbürgertum mit Bildungshunger“, so beschreibt Jacobs ihr Aufwachsen im | |
Ruhrgebiet, ihre Eltern seien „feier- und lebenslustige 68er, die in der | |
Provinz geblieben sind“. Als Kind las sie Astrid Lindgren, Christine | |
Nöstlinger, Erich Kästner und später Groschenromane, die sie im | |
Schrebergarten der Großmutter fand. | |
Im Studium standen Männer und deren Popliteratur auf dem Curriculum: | |
Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, „das hat mich null | |
interessiert“. Jacobs suchte also nach weiblicher Popliteratur. Ihre | |
Magisterarbeit schrieb sie zu der Sängerin und Autorin [7][Françoise | |
Cactus,] die Jacobs kurz vor deren Tod noch zu „Dear Reader“ einlud. | |
Sie will keine Promis | |
Viele ihrer Podcastgäste haben in diesem Jahr große deutsche | |
Literaturpreise gewonnen, Barbi Marković den Belletristik-Preis der | |
Leipziger Buchmesse, Tjian Sila den Ingeborg-Bachmann-Preis, Maren Kames | |
stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Aber darum geht es | |
Jacobs nicht, sie will keine Promis – obwohl das mehr Klicks, | |
zuverlässigeres Geld bringen würde. | |
Was sie interessiert, ist eine spielerische Form im Schreiben. So wie bei | |
„Minihorror“ von Marković, dem zweiten ihrer für heute ausgewählten | |
Lieblingsbücher. Es ist ein Comicroman, in dem die Figuren Mini und Miki, | |
angelehnt an Minnie- und Mickymaus aus den „Lustigen Taschenbüchern“, auf | |
Monster und Alltagsstress treffen. | |
Jacobs hat beim Lesen laut lachen müssen, das kommt nicht oft vor. Etwa | |
über die Anekdote, in der Mini freiberuflich arbeitet und weiß, „dass das, | |
was sie macht, nie genug sein kann, aber dass sie ebenso in Gefahr ist, zu | |
viel zu machen. Deswegen weint sie, weil sie jetzt nicht weiß, ob sie Gas | |
geben oder Pause machen oder ins Fitnessstudio gehen oder E-Mails schreiben | |
soll.“ | |
Jacobs kennt das, sie hat etwa sieben Jobs: Sie gibt das Magazin POP. | |
Kultur und Kritik mit heraus, legt auf, moderiert, redigiert Texte, | |
schreibt selbst, literarisch und journalistisch. Und sie liest, manchmal | |
wochenlang für eine Podcastfolge. „Das, was ich mache, ist das, was ich mir | |
als Zwanzigjährige erträumt habe“, sagt sie. | |
Nur Elfriede Jelinek fehlt noch. Jacobs schrieb ihr im vergangenen Jahr | |
einen Brief, um sich für ihr Schreiben zu bedanken. Sie zu „Dear Reader“ | |
einzuladen, habe Jacobs sich aber nicht getraut. Jelinek, das ist | |
bekannt, verlässt ihr Haus kaum mehr. Vielleicht hat die Schriftstellerin | |
recht damit, dass es sich selten lohnt, auf die Gefahren der Welt da | |
draußen einzugehen. Doch wenn es sich lohnen könnte, dann hierfür: zwei | |
Stunden am Küchentisch mit Mascha Jacobs. Entlässt sie einen aus dem | |
Gespräch zurück in das Treppenhaus des Pankower Altbaus, ist es, wie wenn | |
eine ihrer Podcastfolgen zu Ende geht: Die imaginäre Leseliste ist | |
unendlich viel länger geworden. | |
2 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jolinde Hüchtker | |
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