| # taz.de -- Clemens Meyer beim Deutschen Buchpreis: Wollen wir nicht lieber üb… | |
| > Was gute Literatur ausmacht, lässt sich nur aushandeln, wenn öffentlich | |
| > über sie gestritten wird. Der Deutsche Buchpreis ist dabei leider keine | |
| > Hilfe. | |
| Bild: Es liegt an den Strukturen: die Autor*innen der Shortlist des diesjährig… | |
| Hat sich der Deutsche Buchpreis in 20 Jahren verändert? – Hat er nicht, | |
| zumindest nicht wesentlich“, sagte Ina Hartwig, Kulturdezernentin der Stadt | |
| Frankfurt am Main, in ihrer Rede vor der Verleihung im Frankfurter | |
| Kaisersaal am 14. Oktober. Die Welt aber, setzte sie nach, die habe sich | |
| ganz erheblich verändert und damit auch die Diskussionen über Literatur. | |
| Mit Ersterem hat sie Unrecht. Nicht zuletzt, weil Social Media ein Ort | |
| geworden ist, an dem über Literatur gesprochen und Aufmerksamkeit generiert | |
| wird, wird seit einigen Jahren jedem Buch auf der Longlist eine | |
| Buchbloggerin oder Blogger zugeordnet, der oder die dann über sein oder ihr | |
| „Patenbuch“ auf Social Media schreibt. Wer nun denkt, dass mehr | |
| Aufmerksamkeit automatisch mehr Diskussionen um Literatur generiert, irrt. | |
| Im Gegenteil: Die Literatur, der Text selbst, ist sogar weniger Gegenstand | |
| der Auseinandersetzung geworden. Worüber aber wahrscheinlich mehr geredet | |
| wird als je zuvor, ist das Auftreten von Autor*innen, über ihre politische | |
| Haltung, Kleidung, Entgleisungen, Gesten der Solidarität, Eltern oder über | |
| ihre vermeintliche „Herkunft“. | |
| Viele Schriftsteller*innen sind sehr gut darin, dieses Verlangen nach | |
| Authentizität – zumindest online – zu bedienen und von sich reden zu | |
| machen. Es ist genau das, was von ihnen verlangt wird. Sie generieren | |
| dadurch Aufmerksamkeit, die wiederum zu höheren Verkaufszahlen führt. (Das | |
| macht noch keine schlechte Literatur!) | |
| Wer mit seinem Buch auf die Spiegel-Bestsellerliste will, sollte | |
| (literarisch) möglichst nicht anecken, denn gekauft wird am ehesten, was | |
| leicht konsumierbar ist. Zwischen diesen Büchern findet sich auch Caroline | |
| Wahls neuer Roman „Windstärke 17“, die Autorin stand zuletzt in der Kritik, | |
| weil sie sich auf Instagram darüber echauffiert hatte, dass ihr Roman nicht | |
| auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. „22 bahnen wird | |
| pflichtlektüre neben fucking bertolt brecht“, schrieb sie unter einem | |
| zweiten Posting, das sie mit Prada-Brille zeigt. | |
| ## Was Literatur ausmacht | |
| Jetzt könnte man fragen: Wozu braucht Caroline Wahl noch den Deutschen | |
| Buchpreis? Zumindest monetär dürfte sie durch ihre Bestseller-Platzierungen | |
| für die nächsten Jahre ausgesorgt haben, an Aufmerksamkeit fehlt es ihr | |
| auch nicht. Es scheint ihr darum zu gehen, als mehr als nur gut verkaufte | |
| Unterhaltungsliteratur wahrgenommen zu werden, nämlich als künstlerisch | |
| wertvoll. | |
| Es geht also um die Frage, was „Literatur“ ausmacht, welcher Begriff von | |
| Literatur Gegenstand der Jurybewertung ist. Dies lässt sich nur aushandeln, | |
| wenn auch über die Texte selbst gesprochen wird, wenn über sie gestritten | |
| wird – öffentlich. Formate wie der Deutsche Buchpreis werden dieser | |
| Aushandlung nicht gerecht, sie verhindern sie sogar. | |
| Die Entscheidungen von Jurys in der Buchbranche bleiben meist im | |
| Verborgenen – zwar wird das Siegerbuch gelobt, erklärt, warum es großartig | |
| sei, wieso es andere Texte jedoch im Gegensatz nicht geschafft haben, | |
| darüber kann nur spekuliert werden. Es führt zu Unmut, gekränkten Egos, | |
| Munkeln über Verschwörungen, aber auch zu berechtigter Kritik an Preisen | |
| und deren Vergabemodalitäten. | |
| Autor*innen, die für die Shortlist nominiert sind, sitzen im Publikum, | |
| kurz vor Bekanntgabe des Siegertitels werden die Kameraleute nervös, jedes | |
| Zucken, jede Aufregung, Enttäuschung oder Freude soll eingefangen werden, | |
| damit im Nachhinein darüber gesprochen werden kann. | |
| ## Zusammensetzung der Jury | |
| Ein Blick auf die [1][Zusammensetzung der jeweiligen Jurys] lässt vermuten, | |
| dass es bei der Frage nach dem „besten“ Buch durchaus auch zu | |
| Streitigkeiten kommen kann: Sie setzt sich zusammen aus Literaturkritik, | |
| Wissenschaft, Buchvermittlung und Handel. Beste Voraussetzungen also, wenn | |
| es darum geht, sich nicht einig zu sein. | |
| Nichts wäre spannender, als zu sehen, wie überhaupt Vergabekriterien, wie | |
| ein gemeinsamer Literaturbegriff ausgehandelt wird, auf dessen Basis dann | |
| über die Texte gestritten wird. Wie kann es sein, dass ein Text | |
| ausgezeichnet wird, aber niemand darüber spricht, welche Kriterien angelegt | |
| werden, welche Argumente ausgetauscht wurden? | |
| Sollten wir Social Media als Ort des Sprechens über Literatur also eine | |
| Chance geben? Könnte es sich um ein progressives Gegenstück zu vermeintlich | |
| verstaubten Formaten wie dem Deutschen Buchpreis handeln, das frei von | |
| gesellschaftlichen Machtstrukturen und Kanon „authentische“ Gespräche über | |
| Literatur zulässt, die öffentlich geführt werden? | |
| Viele Schriftsteller*innen sind sehr aktiv auf Social Media, teilen | |
| intime Momente, betreiben Selbstvermarktung, kommentieren politisches | |
| Weltgeschehen – dabei geht es selten um die Literatur selbst. Das ist ihr | |
| gutes Recht. Allerdings werden mitunter Kolleg*innen beleidigt und | |
| diskreditiert: Der Autor Behzad Karim Kahni schrieb zu Herta Müllers Essay | |
| „Ich kann mir die Welt ohne Israel nicht vorstellen“, dass ihr Gehirn wohl | |
| schon in Rente sei und „F*** her anyway. Ist in paar Jahren eh tot“. | |
| In einem weiteren Posting kritisiert er PEN-Berlin-Sprecher Deniz Yücel, er | |
| habe sich mit einer „kindischen, distanzlosen, schnippischen und hämischen“ | |
| Nachricht auf Karim Kahnis Austritt aus dem Verein gemeldet. Karim Kahni | |
| verstehe die Aufregung nicht, er habe den PEN Berlin „in Frieden“ | |
| verlassen, er sei ein „kleiner, unbedeutender Autor“, ein Underdog. Nur ein | |
| Fingerwisch weiter zeigt er sein provokatives Austrittsposting. Es handelt | |
| sich bei diesem Social-Media-Auftritt um ein Wechselspiel zwischen | |
| teilweise menschenverachtender Provokation und einem Schreien nach | |
| Aufmerksamkeit, nach Zustimmung. | |
| ## Autoren als Marken | |
| In Reaktion auf Clemens [2][Meyers Wutausbruch] bei der Verleihung des | |
| Deutschen Buchpreises 2024, der an Martina Hefter ging, berichtet der Autor | |
| Dinçer Güçyeter auf Facebook, dass er dem Kollegen eine Nachricht | |
| geschrieben habe, samt Wortlaut. Er empfiehlt Meyer darin, mehr Größe zu | |
| zeigen, so wie die Autorinnen und Autoren, die mit ihm in der engeren | |
| Auswahl für den Leipziger Buchpreis standen, den er damals selbst erhalten | |
| hatte, denn „keins dieser bücher war schlechter“ als seins. | |
| Einen Tag später schreibt er: „auch witzig, kollege meyer hat in 20 jahren | |
| 20 preise bekommen und redet von schulden. Ich habe in 20 jahren 4 preise | |
| bekommen und fühle mich wie der scheich-boss (…)“. Meyer markiert er damit | |
| als unsolidarisch und arrogant, ganz das Gegenteil von Güçyeter selbst, der | |
| demnach bescheiden und gutmütig sei, dabei aber kritische Kommentare | |
| fleißig löscht. | |
| Auf Social Media verorten sich die Autoren als Marken im literarischen | |
| Feld. Dieser Mechanismus funktioniert automatisch, unabhängig davon, ob sie | |
| sich ihrer Inszenierung bewusst sind oder nicht. Auffällig ist, dass ihre | |
| Äußerungen meist wenig komplex sind, sondern vielmehr laut und beleidigend, | |
| wenig argumentativ oder aber um jeden Preis innerhalb der eigenen | |
| Followerschaft nach Zustimmung suchen. | |
| Rezensionen von Buchbloggerinnen und Buchbloggern werden weniger geklickt, | |
| weniger diskutiert als provokante Meinungsäußerungen von Autor*innen. | |
| Wenngleich sich einige von ihnen intensiv mit den Texten auseinandersetzen, | |
| kommt es selten zu einem digitalen Gespräch über die Literatur. Sie | |
| funktionieren, egal wie sie beschaffen sind, vielmehr als Verkaufsargument. | |
| Ein Like ist schnell verteilt. | |
| ## Zustimmung provozieren | |
| Aufmerksamkeit auf Social Media bekommt also, was Zustimmung generiert oder | |
| provoziert. Buchbesprechungen auf Social Media evozieren affirmative | |
| Reaktionen, selbst wenn die Besprechungen in Textform hier und da komplex | |
| sind. Das Buch wird auf einem Foto in Szene gesetzt, es werden Sterne oder | |
| Punkte vergeben. Kriterien für „gute“ Literatur sind häufig thematische | |
| Schwerpunkte, Authentizität, Lesbarkeit. Dem Verlag wird für die Zusendung | |
| gedankt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Text selbst und seiner | |
| Form wird durch die Beschaffenheiten der Plattformen, durch die meist nur | |
| kurzen oder symbolhaften Interaktionsmöglichkeiten erschwert. | |
| Literaturpreise wie der Deutsche Buchpreis integrieren all diese negativen | |
| Effekte digitaler Kommunikation und tilgen die möglichen Vorteile wie die | |
| breiteren Partizipationsmöglichkeiten. Sie fördern das Gerede über | |
| Außerliterarisches. Solange nicht über Texte so sehr gestritten wird wie | |
| über Clemens Meyers Wutausbruch bei der Preisverleihung, haben sie nichts | |
| mit Literatur zu tun. | |
| Grund dafür sind nicht einzelne Jurymitglieder, sondern die Struktur, in | |
| die sie eingebettet sind. Könnten und sollten Literaturpreise nicht gerade | |
| dann eine Chance sein, genau das zu fördern, was sich den Eigenlogiken der | |
| Aufmerksamkeitsökonomien auf Social Media, den Bestenlisten, die nach | |
| Verkaufszahlen funktionieren, den Selbstdarstellungs- und | |
| Vermarktungsversuchen von Autorinnen und Autoren, entzieht? Einen Raum | |
| schaffen, der Aufmerksamkeit jenseits von heuchlerischer Harmonie oder | |
| Zerstörungswut auch analog „klickbar“ macht? | |
| Sollten Sie nicht genau das fördern, was gegenwärtig viel zu kurz kommt: | |
| das argumentative Streitgespräch? Ein Gespräch, das nicht darauf aus ist, | |
| die andere Position zu zerstören, sondern von sich selbst zu überzeugen, | |
| mit Diskutant*innen, die ein Interesse haben, zu überzeugen und | |
| überzeugt zu werden, nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern auch auf der | |
| Bühne? | |
| 26 Oct 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Yeliz Schentke | |
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