# taz.de -- Diversität im deutschen Literaturbetrieb: Kulturelle Sortiermaschi… | |
> Immer wenn die Nominierten für Buchpreise veröffentlicht werden, folgt | |
> eine Debatte. Es geht auch darum, wer im Literaturbetrieb sichtbar ist | |
> und warum. | |
Bild: Wie divers wird die Longlist des Deutschen Buchpreises in diesem Jahr? | |
Bald wird sich zeigen, was geblieben ist. Das Warten auf die Longlist der | |
nominierten Titel für den Deutschen Buchpreis ist ein Warten auf die | |
Debatte über sie. Erst im Frühjahr sorgte die [1][Nominierungsliste für den | |
Preis der Leipziger Buchmesse] für Empörung. Denn die dort vertretenen | |
fünfzehn Autor:innen waren alle weiß. Ob dies der Normalfall im | |
Literaturbetrieb bleibt, entscheidet sich am Dienstag. | |
In der Debatte um den Leipziger Preis ging es längst nicht nur um die | |
Nominierungen, sondern um die weitaus grundsätzlichere Frage, wer im | |
Literaturbetrieb sichtbar ist und warum. Die beiden Fronten, die sich | |
entlang der umstrittenen Vorabentscheidung der Leipziger Literaturjury | |
ausgebildet hatten, kann man rückblickend wie folgt zusammenfassen: | |
Auf der einen Seite findet sich der Vorwurf der mangelnden Diversität. Die | |
Auswahl der Jury repräsentiere nicht die Pluralität der deutschsprachigen | |
Literatur, sondern lediglich die Dominanz einer weißen Monokultur – an | |
preiswürdigen Autor:innen of Color hat es in diesem Frühjahr wahrlich | |
nicht gemangelt: [2][Shida Bazyar], Asal Dardan, [3][Sharon Dodua Otoo], | |
[4][Mithu Sanyal] oder [5][Hengameh Yaghoobifarah]. Die Liste ließe sich | |
fortsetzen. [6][Ein offener Brief] sprach darum nicht von einem | |
ästhetischen Fehlurteil der Jury, sondern von einer „institutionellen | |
Struktur“ des Ausschlusses, die im Literaturbetrieb systematisch | |
Autor:innen of Color benachteilige. | |
Begleitet wurde diese durchaus schwerwiegende Anklage auf der anderen Seite | |
von einem bewährten Rechtfertigungsmuster. Eine Literaturauszeichnung sei | |
zuvorderst ein ästhetisches Urteil, außerliterarische Kriterien könnten, ja | |
dürften hier keine Rolle spielen. Der soziale Sinn eines Literaturpreises | |
sei gerade, die Qualität des Werks ungeachtet der Herkunft der Autor:in | |
zu prämieren. Letztlich sei es der Fokus auf die ästhetische Leistung, | |
nicht auf die Person, der eine gerechte Entscheidung garantiere. | |
## Mehrstufige Ausleseverfahren | |
Hier prallen egalitäre Positionen auf meritokratische: Wollen wir allen | |
Autor:innen ungeachtet der sozialen Voraussetzungen die gleichen | |
Zugangschancen einräumen oder sollen sich Literaturpreise auf ihr | |
Kerngeschäft fokussieren, der Valorisierung von ästhetischen Werken? Es ist | |
keinesfalls Zufall, dass es immer wieder Literaturpreise sind, die zu einer | |
diskursiven Erosion der literaturinteressierten Öffentlichkeit führen. Noch | |
in den vergangenen Jahren wurde etwa beklagt, dass Autorinnen nur marginal | |
auf Nominierungslisten vertreten seien. Die großen Literaturpreise, ob in | |
Leipzig oder in Frankfurt, stehen stellvertretend für die kulturelle | |
Sortiermaschine, die sich Literaturbetrieb nennt. | |
Literatur erhält hier über mehrstufige Ausleseverfahren ihre Legitimität. | |
Und dies ist eben nicht nur auf Literaturauszeichnungen beschränkt. All die | |
nicht prämierten Bücher konnten immerhin die Schwelle passieren, in einem | |
Verlag publiziert zu werden. Vielleicht hatten sie auch das Glück, von der | |
Literaturkritik wahrgenommen zu werden. Von den übrigen erfahren wir nur | |
wenig. In der wiederkehrenden Diskussion um Literaturpreise geht es also um | |
allgemeinere Legitimationsprobleme, eine potenziell ungerechte Selektion zu | |
rechtfertigen. | |
Ein Problem ergibt sich aus der klandestinen Urteilsfindung. Die | |
Jury-Arbeit findet bei Literaturpreisen in der Regel im Verborgenen statt. | |
Die Entscheidung für eine Preisträger:in ist zwar | |
rechtfertigungsbedürftig, aber über die langwierigen Prozeduren, einen | |
Kompromiss aus divergierenden Meinungen zu finden, erfahren wir von außen | |
relativ wenig. Zumal das, was verglichen wird, also die Werke, selbst kaum | |
vergleichbar sind. Wie liest man den Lyrikband Friederike Mayröckers neben | |
Mithu Sanyals Roman „Identitti“? Das wir über die Antworten auf diese Frage | |
nur sehr wenig erfahren, bietet Anlass für weitreichende Spekulationen. | |
Um eine mögliche Kritik vorab auszuräumen, verinnerlichen die | |
Juror:innen das Betriebsgerede über sie: Bitte nicht nur die großen | |
Publikumsverlage, nicht nur die trendigen Themen, ein zu experimenteller | |
oder zu konventioneller Stil, nicht zu viele Männer, oder eben nur Weiße. | |
In gewisser Weise kann der Leipziger Buchpreis mit seinen drei | |
Preisträgerinnen Iris Hanika, Heike Behrend und Timea Tankó als ein | |
Resultat ausgefochtener Kämpfe um Anerkennung gelesen werden. Rein um | |
ästhetische Maßstäbe ging es wohl noch nie bei Literaturpreisen. | |
## Bloß eine Übereinkunft | |
Angesichts des unübersichtlichen Geflechts aus externen Erwartungen und | |
subjektiven Verstrickungen, die sich unweigerlich bei der Buchlektüre | |
einstellen, lassen sich die Qualitätsurteile einer Jury also schlicht nicht | |
objektivieren. Kurz: Die literarische Qualität, die in den vergangenen | |
Debatten von professionellen Kritiker:innen als zu schützendes Gut | |
hochgehalten wurde, ist kein vorgängiger Maßstab, sondern ein diskursives | |
Produkt aus heterogenen Erfahrungen. | |
Wie aber kann nun eine Prämierung einen übergreifenden Konsens des | |
Literaturbetriebs zumindest ansatzweise repräsentieren – und nicht nur das | |
singuläre Urteil einiger weniger sein? Obwohl das ausgezeichnete Buch eben | |
genau das sein wird, eine Übereinkunft der Jurymitglieder. Durch eine | |
möglichst heterogene Zusammensetzung der Jury, war in der Kontoverse um die | |
Nominierungsliste in Leipzig immer wieder zu hören. Tatsächlich, eine | |
plurale Entscheidungsfindung beruht auf der Diversität ihrer | |
Diskutant:innen. Die Frage allerdings, wer wiederum die Jury festlegt, | |
spare ich an dieser Stelle aus. | |
Indes, dass die Nominierung durch einen großen, medial präsenten | |
Literaturpreis strukturell die diskursive Aufmerksamkeit verengt, ist | |
dadurch noch nicht gelöst. Ist erst einmal eine Nominierungsliste oder, wie | |
bei dem kommenden Deutschen Buchpreis, die Long- und dann die Shortlist | |
veröffentlicht, wird in den Feuilletons und sozialen Netzwerken vor allem | |
über die Auswahl dieser Liste gesprochen. Oft wird an ihr rumgemäkelt, nur | |
selten stößt sie auf Wohlwollen. | |
Obwohl die Kritik mit inklusiven Absichten formuliert wird, bewegt auch sie | |
sich oft im medialen Tunnel der Aufmerksamkeitsökonomie, die Bücher | |
ausschließt, die nicht in den Diskurs um die Nominierungslisten passen. | |
Unsere Aufmerksamkeit wird durch den Preis strukturiert. Das | |
Legitimationsdefizit von Literaturpreisen hat also nicht nur damit zu tun, | |
wer prämiert wird, sondern ebenso sehr, wie wir darüber sprechen. | |
## Wie es besser ginge | |
Wie können Literaturpreise also überhaupt die Pluralität des | |
Literaturbetriebs abbilden, wenn sie gleichzeitig unsere Aufmerksamkeit | |
verengen? Entweder, indem Institutionen sich diversifizieren. Dies kann | |
neben der Jury auch die Preislandschaft selbst betreffen, etwa durch | |
Förderprogramme für marginalisierte Menschen. Oder aber, indem wir über das | |
Prämierungssystem streiten, wie im Frühjahr. Hier ging es um die | |
institutionelle Macht, die von Literaturpreisen ausgeht und die meist | |
unausgesprochen Autor:innen in eine ungerechte Verteilungshierarchie | |
sortiert. Dass dies die Realität des Literaturbetriebs ist, muss erst | |
einmal anerkannt werden. | |
Da der ästhetische Wert nicht objektiv ist, entscheidet oft der bisherige | |
Erfolg einer Autor:in über die vermeintliche Qualität eines Buchs. Eine | |
ausgezeichnete Autor:in zeigt, dass sie einer Auszeichnung würdig ist – | |
und erhält weitere Prämierungen. Literaturpreise sind insofern kulturelle | |
Wertschöpfungsmaschinen: Sie akkumulieren Anerkennung. Mit dem sozialen | |
Nebeneffekt, dass die einen begünstigt und die anderen benachteiligt | |
werden. Vielfalt geht anders. | |
Ein Vorschlag, der in der Debatte um den Leipziger Preis zu hören war, ist | |
den freien Markt um die kulturelle Anerkennung zu regulieren, indem | |
Autor:innen of Color eine gezielte Förderung erhalten. Ähnliche Versuche | |
gab es durchaus, wenn man sich an den Adelbert-von-Chamisso-Preis der | |
Robert Bosch Stiftung erinnert. Bis 2017 zeichnete er Autor:innen aus, | |
deren Werke von einem „Kulturwechsel“ geprägt sind. | |
## Qualität oder Quote? | |
Gerade bei migrantischen Autor:innen stieß diese Sonderbehandlung nicht | |
nur auf Begeisterung. Imran Ayata sprach vor mehr als zehn Jahren von | |
einem „Kanakenbonus“. Denn hier ging es weniger um Anerkennung auf | |
Augenhöhe, sondern um das Begehren einer dominanten Mehrheit nach einer | |
minoritären Fremdheit, das migrantische Autor:innen in ein exotisches | |
Reservat abschiebt. Migrantische Autor:innen schreiben migrantische | |
Literatur. Die Antwort kann nicht Segregation sein, sondern nur Inklusion. | |
Was nun also, Qualität oder Quote? Eine Frage, die sich in einem | |
gesellschaftlichen Bereich, in dem sich soziale Unterschiede vor allem über | |
ästhetische Differenzen legitimieren, gestellt werden muss. Die Quote kann | |
ein Mittel von vielen sein, um der ästhetischen Seinsvergessenheit der | |
selektierenden Institutionen entgegenzuwirken. Sie wäre zumindest nicht nur | |
ein Signal für die Chancengleichheit benachteiligter Autor:innen, sondern | |
auch ein ästhetischer Mehrwert für die Literatur. Am Ende ist es also | |
gerade der Blick auf außerliterarische Faktoren, der ästhetische Diversität | |
vorantreiben kann. | |
23 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Carolin Amlinger | |
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