# taz.de -- Fatma Aydemirs „Dschinns“ im Theater: Das Loch in der Familie | |
> Fatma Aydemirs Familienroman „Dschinns“ lebt von seinen genauen | |
> Beobachtungen. In Berlin hat Nurkan Erpulat den Stoff nun überzeugend | |
> inszeniert. | |
Bild: Vereint und getrennt in der Trauer: die Familie im Schlussbild von „Dsc… | |
Berlin taz | Da rastet etwas ein. Kaum sehen sie sich, Mutter und Tochter, | |
ahnen beide die Kröten, die gleich ausgespuckt werden. Und wappnen sich mit | |
Härte. Wie konnte die Mutter sie nur verlassen, als Kind allein im Dorf bei | |
den Großeltern lassen, als sie nach Deutschland ging? Wie konnte sie ihr | |
nur die Schule vorenthalten? | |
Sevda (Çiğdem Teke), die Tochter, hadert mit ihrem erschwerten Start, bei | |
jeder Begegnung mit der Mutter, auch als sie eigentlich gekommen ist, um | |
mit den Geschwistern und der Mutter um den gestorbenen Vater zu trauern. | |
Und Emine, die Mutter (Melek Erenay), reagiert nicht minder verbittert auf | |
die nie zufriedene Tochter. Wie sie sich gleichen in ihren | |
Handlungsmustern, das sehen beide und es erschreckt sie. | |
Romane, deren Lektüre noch frisch ist und die einen kraftvoll hineingesogen | |
haben in die einzelnen Figuren, für die Bühne adaptiert zu sehen, ist mit | |
einem hohen Risiko behaftet. Aber diesmal geht es gut. Die Stückfassung, | |
die [1][der Regisseur Nurkan Erpulat] und der Dramaturg Johannes Kirsten | |
nach dem Roman „Dschinns“ von Fatma Aydemir für das Gorki Theater | |
entwickelt haben, transportiert viel von den Emotionen des Romans. | |
Auch das Spiel lebt von der genauen Beobachtung, mit der die Autorin, die | |
auch [2][eine Redakteurin der taz ist,] die zwischen Erwartungen und | |
Vorurteilen sich verengenden Handlungsspielräume in der Familie | |
ausgeleuchtet hat. Die Dialoge transportieren viel von der Verzweiflung, | |
aber auch von dem Witz, mit dem sich die vier Geschwister einen Weg aus dem | |
Erwartungsdruck suchen. Der kommt einerseits von ihren aus der Türkei nach | |
Deutschland gegangenen Eltern und andererseits von dem Blick auf „die | |
Türken“ von deutscher Seite. | |
## Familienbeziehungen und Dämonen | |
Erzählende Passagen, in denen eine Figur, wie zum Beispiel eingangs der | |
Vater, aus der Perspektive der anderen vorgestellt wird, wechseln ab mit | |
Dialogszenen, mit getanzten Bildern – so wird etwa die Liebe des jüngeren | |
Sohns Ümit zu einem Freund auf die Bühne gebracht. Dann wieder gibt es | |
schnell hingeworfene, mit Mitteln der Überzeichnung witzig erzählte Szenen. | |
So werden die Beziehungen in der Familie, aber auch die Dämonen, die sie | |
umtreiben, bald greifbar. | |
Mit auf der Bühne ist Anthony Hüseyin, ein*e nicht-binäre*r | |
Singer-Songwriter*in und Performer*in, die/der mit ihren/seinen Liedern in | |
türkisch, englisch und kurdisch den Raum und die Zeit zwischen den schnell | |
gespielten Szenen dehnt und die Sehnsucht nach etwas Verlorenem und | |
Vermissten einbringt, sei es Heimat, Kindheit, Liebe. | |
Und Anthony Hüseyin spielt Ciwan, ein rätselhafte Figur, die, weil sie so | |
schwer zuzuordnen ist, die Familie herausfordert. In einer der schönsten | |
Szenen tanzen Peri (Aysima Ergün) und Ciwan auf einem kleinen Tisch, Peri | |
ist offensichtlich verliebt und will berührt werden, aber Ciwan entzieht | |
sich. | |
## Mütter, die Töchter kleinhalten | |
Das Sich-Entziehen, das Stummbleiben, das Schweigen, die vielen | |
unbeantworteten Fragen: das gehört zu den Verhaltensweisen der Eltern, an | |
denen sich die vier Geschwister abarbeiten und die sie verrückt machen. | |
Peri nennt es einmal „das Loch in der Familie“, eben als sie sich um Ciwan | |
wickeln will und er sie fernhält. | |
Dass es dabei auch um ein Familiengeheimnis geht, um ein verlorenes Kind, | |
einen nie mehr zu kittenden Bruch des Vertrauens zwischen Emine und ihrem | |
Mann, ist das eine Element der Spannung, das die Geschichte vorantreibt. | |
Ein anderes ist die langsame Erkenntnis, dass auch ihre Familie eine | |
verdrängte kurdische Vergangenheit hat. | |
Das Maxim Gorki Theater hat schon viele Geschichten über die biografische | |
Brüche auf den Wegen der Migration erzählt, von der Verlorenheit | |
zurückgelassener Kinder, von der Scham der zweiten Generation über die | |
Schwächen ihrer Eltern. Auch in „Dschinns“ gibt es eine Szene, in der der | |
ältere Sohn Hakan (Taner Şahintürk) sich schmerzhaft darin erinnert, wie | |
unterwürfig sein Vater der deutschen Polizei begegnete, die den Sohn beim | |
Kiffen und Sprayen erwischt hatte. | |
Mehr aber noch legt die Inszenierung den Fokus auf die Frauen, auf ihren | |
Anteil an der Tradierung von patriarchalen Rollenbildern. In einer der | |
letzten Konfrontationen geht Sevda mit ihrer Mutter streng ins Gericht: „Es | |
mag stimmen, dass Männer das Sagen haben, ja, es ist 1999, verdammt noch | |
mal, und es ist immer noch so. Aber damit sie das können, damit sie für | |
immer alles bestimmen, dafür brauchen sie Menschen wie dich. Frauen, die | |
andere Frauen für immer kleinhalten.“ | |
19 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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