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# taz.de -- Erdoğans Wahlkampf: Am besten, es bleibt in der Familie
> Präsident Erdoğan möchte die Familie gesetzlich schützen. Der Wahlkampf
> ist also eröffnet, auf dem Rücken von Frauen und Queers.
Bild: Istanbul, 18. September 2022: queerfeindlicher Protest mit Türkeifahnen
Wann immer über den „Schutz von Familien“ diskutiert wird, ist Unheil im
Anmarsch. Niemand fordert die Sicherung dieser Institution ohne
Hintergedanken, denn niemand müsste es. Schließlich [1][wird die Familie
ohnehin überall auf der Welt geschützt]: Staat, Gesellschaft, Religion, sie
alle berufen sich auf Familie als ideale Form des Zusammenlebens. Ideal vor
allem natürlich für die Erhaltung einer patriarchalen Ordnung. Doch wer
schützt die Menschen eigentlich vor ihren eigenen Familien?
In der Türkei sind es vor allem feministische Selbstorganisationen und
queere Vereine, [2][die der Regierung seit Jahren schon ein Dorn im Auge
waren]. In diesen Tagen dürfte sich ihre Lage drastisch verschlimmern, denn
Präsident Erdoğan hat ein neues Herzensprojekt: In einer Rede anlässlich
des 99. Jahrestags der Gründung der Republik sagte Erdoğan am Montag, mit
einer Verfassungsänderung wolle er die Familie gesetzlich stärken und die
Rechte von Frauen schützen, die ein Kopftuch im öffentlichen Dienst tragen
wollten. Der Wahlkampf für die im nächsten Jahr anstehenden
Parlamentswahlen ist also eröffnet – auf dem Rücken von Queers und Frauen.
Seit dem Sommer schon betreibt die AKP-Regierung eine [3][regelrechte
Hetzkampagne gegen die LGBTIQ-Community des Landes]. Nicht, dass die
Regierung zuvor besonders queerfreundlich gewesen wäre, doch ist schon
auffällig, mit welcher Vehemenz in den vergangenen Monaten eine queere
Weltverschwörung proklamiert wurde, die eine Bedrohung für muslimische
Werte und die traditionelle Familie darstelle. Klingt nicht besonders neu,
kennt man von jedem rechtskonservativen Regime aus Osteuropa. Doch dürfte
es kein Zufall sein, dass der türkische Präsident sich in Zeiten einer
Inflationsrate von 86 Prozent (nach offiziellen Angaben, die Dunkelziffer
dürfte höher liegen) auf das billigste Thema stürzt, mit dem sich
konservative bis radikal-islamistische Teile der Gesellschaft mobilisieren
lassen.
## Interessantes Timing
Das Timing für den Plan einer vermeintlichen Stärkung der Rechte
kopftuchtragender Frauen ist ebenfalls interessant. Während im benachbarten
Iran [4][der Mord an Zhina Amini], die die Verschleierungsvorschriften
missachtete, einen Massenaufstand auslöste, der bereits in die achte Woche
geht, möchte die türkische Regierung mehr Frauen mit Schleier im
öffentlichen Dienst sehen. Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen
wurde erst unter der AKP schrittweise aufgehoben, nun soll es per
Verfassung ein Recht auf Verschleierung geben. Selbstverständlich sollte in
einer Demokratie allen Frauen dieses Recht zustehen. Wenn eine Regierung
aber seit Jahren mit der Einschränkung und Abschaffung von Demokratie und
Freiheiten beschäftigt ist, sollte man einem solchen Plan mit größter
Vorsicht begegnen.
Den [5][Ausstieg der Türkei aus der Istanbuler Konvention] hatte Erdoğan
letztes Jahr damit begründet, das Land habe ausreichend Gesetze, um Frauen
vor häuslicher Gewalt zu schützen. Das steht in Widerspruch zu den
explodierenden Zahlen von Femiziden im Land. Frauenrechtler_innen
kritisieren seit Jahren, dass Behörden Gewalt gegen Frauen nicht ernst
genug nehmen und Täter wegen guter Führung nach wenigen Jahren wieder
freikommen.
Dringend gebraucht werden also Maßnahmen, die Frauen besser davor schützen,
von ihren Ehemännern, Ex-Freunden und Brüdern abgeschlachtet zu werden, und
nicht von Männern geführte Scheindebatten über das Recht auf
Verschleierung. Was diese hassschürenden Ablenkungsmanöver aber am Ende
nicht verschleiern können, sind die Zahlen. Zuletzt war die Inflationsrate
vor über zwanzig Jahren so hoch, kurz bevor die AKP ihren allerersten
Wahlsieg hatte. 2023 sind wieder Wahlen, vielleicht schließt sich damit ein
Kreis.
6 Nov 2022
## LINKS
[1] /Feministin-ueber-das-Familienrecht/!5873105
[2] /Umstrittener-Kleriker-in-der-Tuerkei/!5678833
[3] /Homophobie-in-der-Tuerkei/!5687275
[4] /Cousin-von-Mahsa-Amini-im-Interview/!5891384
[5] /Austritt-aus-Istanbul-Konvention/!5777445
## AUTOREN
Fatma Aydemir
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