| # taz.de -- Ausstellung über türkischen Knast: Aus dem Gefängnis im Kopf | |
| > Der türkische Journalist Can Dündar erinnert sich im Hamburger Thalia | |
| > Gauß an seine Zeit im Gefängnis Silivri. Drei Monate war er dort | |
| > inhaftiert. | |
| Bild: Nachbau einer Gefängniszelle in einem Glaskasten | |
| Drei Monate lang saß [1][der Journalist und Autor Can Dündar] im türkischen | |
| Gefängnis Silivri. 2015 wurde der ehemalige Chefredakteur der Zeitung | |
| Cumhuriyet der Spionage und der Terrorunterstützung angeklagt und | |
| verhaftet. Nun empfängt Dündar, der seit 2016 in Deutschland im Exil lebt, | |
| mit einem warmen Lächeln seine Gäste im Hamburger Thalia in der Gaußstraße. | |
| Dort erzählt er in der [2][dreiteiligen Ausstellung „SİLİVRİ. Prison of | |
| thought / museum of small things“] von seinem Leben hinter Gittern im | |
| größten Gefängnis Europas, in dem viele Gegner des Erdoğan-Regimes | |
| festgehalten werden. | |
| Mit VR-Brillen wird man im „Prison of thought“ für sieben Minuten in die | |
| Rolle eines Insassen versetzt und erlebt die Ankunft im | |
| Hochsicherheitsgefängnis. Besonders beklemmend ist der nachgestellte Gang | |
| zur Zelle. Man erlebt, wie man auf den kleinen Raum zugeht, stoppen kann | |
| man nicht und bekommt nur eine vage Vorstellung davon, was diese Situation | |
| in Dündar und anderen Häftlingen ausgelöst haben muss. Das Material für die | |
| VR-Installation stamme aus einem Propagandavideo der türkischen Regierung, | |
| erzählt Dündar. „Das diente eigentlich dazu, zu zeigen, wie gut es den | |
| Insassen hier geht“, sagt er. Andere Aufnahmen gäbe es nicht. | |
| Draußen vor dem Eingang des Theaters ist ein maßstabsgetreuer Nachbau von | |
| Dündars Zelle aufgebaut. Die Idee, die Wände des Nachbaus aus Glas zu | |
| fertigen, habe [3][sein Freund Hakan Savaş Mican] gehabt, mit dem er die | |
| Ausstellung gemeinsam erarbeitet hat. „Man soll das Gefühl haben, dass man | |
| ständig beobachtet wird“, sagt der Journalist. Die Betonwände, die ihn | |
| tatsächlich umgeben haben, ließen den Raum aber viel beengter wirken. | |
| Klaustrophopisch dürfe man dort nicht sein. | |
| Dündar verbrachte seine Zeit in Silivri in absoluter Isolation. Das sei | |
| eine gängige Methode, die als Folterinstrument eingesetzt würde, um die | |
| Gefangenen vereinsamen zu lassen. Dennoch sei ihm die Einzelhaft sogar | |
| lieber gewesen als eine Zelle, in der bis zu 20 Personen sitzen. „Wenn man | |
| 24 Stunden lang jeden Tag mit anderen verbringt, treibt das einige auch in | |
| den Wahnsinn. Ich selbst kann mit dem Alleinsein umgehen, und das war mir | |
| dann doch lieber“, erzählt er. | |
| Einmal die Woche konnte Dündar mit seiner Familie durch eine Glasscheibe | |
| sprechen. Die Gespräche wurden abgehört und die Wärter waren | |
| allgegenwärtig. Abgesehen von dem Besucherraum stellte ein vier mal acht | |
| Schritte großer Betonhof mit Stacheldrahtzaun die einzige räumliche | |
| Abwechslung dar. | |
| Seinen Humor hat Dündar trotz alldem nicht verloren. So sind auch viele | |
| heitere Geschichten Teil seiner Erinnerung an die Gefangenschaft. Sie sind | |
| Gegenstand des dritten Teils der Ausstellung, des „museum of small things“. | |
| In der Garage des Thalia Gauß finden sich 12 auf den ersten Blick | |
| unspektakuläre Objekte, hinter denen sich jeweils eine ganz eigene | |
| Geschichte verbirgt. Eine simple Wasserflasche stellt sich als | |
| Kommunikationsmittel für Gefangene heraus. | |
| Ein weiteres Beispiel ist ein weißes T-Shirt, das [4][der Künstlerin Zehra | |
| Doğan] als Leinwand diente. Als Farben benutzte sie ihr eigenes | |
| Menstruationsblut oder zerdrückte einen Salat, um daraus grüne Farbe zu | |
| gewinnen. Da die Familienmitglieder die dreckige Kleidung von Inhaftierten | |
| waschen, war es ihr möglich, ihre Kunst an den Wachen vorbeizuschmuggeln. | |
| Auch die Mitglieder der [5][Musikgruppe Grup Yorum] fanden im Gefängnis | |
| einen Weg für ihre Kunst: Aus den Endstücken von Rasierern bauten sie eine | |
| Panflöte. | |
| Eine Plastikfigur mit zwei Schnecken erzählt von der Freundschaft des | |
| Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala mit zwei Weichtieren, die er in einem | |
| ungewaschenen Salat gefunden und als Kompagnons behalten hatte. „Der Mensch | |
| tut viel, um nicht allein zu sein“, sagt Dündar andächtig. Eine traurige | |
| Wendung nimmt die Geschichte allerdings, als Kavala die Freiheit in | |
| Aussicht gestellt wird und er kurz darauf wieder festgenommen wird. Er | |
| hatte seine beiden Freunde zuvor seinem Anwalt mitgegeben, da er sie nicht | |
| zurücklassen wollte. „Nun sind seine Schnecken frei und er ist wieder drin. | |
| Er fragt sehr oft nach ihnen“, sagt Dündar. | |
| Es stecke viel schwarzer Humor in der Ausstellung, aber genau darum gehe | |
| es, betont Dündar. Hoffnung solle sie geben, im Sinne des Autors Ahmet | |
| Altan, dem ebenfalls ein Ausstellungsstück gewidmet ist: Gedanken, schreibt | |
| der, können nämlich „mühelos durch Wände gehen“. | |
| 29 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Urteil-gegen-Journalisten-Can-Duendar/!5740369 | |
| [2] https://www.thalia-theater.de/stueck/s-l-vr--prison-of-thought-2022 | |
| [3] /Autor-Hakan-Sava-Mican-ueber-Berlin/!5817244 | |
| [4] /Archiv-Suche/!5576694&s=Zehra+Do%C4%9Fan&SuchRahmen=Print/ | |
| [5] /Repressionen-gegen-Grup-Yorum/!5683051 | |
| ## AUTOREN | |
| Tatjana Smudzinski | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Can Dündar | |
| Türkei | |
| Gefängnis | |
| Journalismus | |
| Installation | |
| Thalia-Theater | |
| Video | |
| Türkei | |
| Thalia-Theater | |
| Schweden | |
| Putsch | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Erdoğans Wahlkampf: Am besten, es bleibt in der Familie | |
| Präsident Erdoğan möchte die Familie gesetzlich schützen. Der Wahlkampf ist | |
| also eröffnet, auf dem Rücken von Frauen und Queers. | |
| Dramaturgin über „Nachbarşchaften“: „Diverse Einwanderungsgeschichten“ | |
| Geschichten und Diskussionen übers Zusammenleben mit | |
| Einwanderungsgesellschaften: das Festival „Nachbarşchaften – Komşuluklar�… | |
| am Thalia Gauß. | |
| Türkische Journalisten in Schweden: Puzzleteile in Erdoğans Spiel | |
| Unter türkischen Journalisten in Schweden wächst die Furcht, ausgeliefert | |
| zu werden. Reporter ohne Grenzen appelliert nun an Stockholm. | |
| Film über Putsch in der Türkei: Was wusste Erdoğan? | |
| Der türkische Journalist Can Dündar hat einen Film über den Putsch von 2016 | |
| veröffentlicht. Dabei stellt er die Frage: Kann das so gewesen sein? |