| # taz.de -- Dramaturgin über „Nachbarşchaften“: „Diverse Einwanderungsg… | |
| > Geschichten und Diskussionen übers Zusammenleben mit | |
| > Einwanderungsgesellschaften: das Festival „Nachbarşchaften – Komşulukla… | |
| > am Thalia Gauß. | |
| Bild: Der türkische Journalist Can Dündar vor dem Nachbau der Gefängniszelle… | |
| taz: Frau Lochte, Sie veranstalten das Festival „Nachbarşchaften – | |
| Komşuluklar“ nun zum zweiten Mal. Was ist die Idee dahinter? | |
| Julia Lochte: Ein Anlass war das [1][Anwerbeabkommen zwischen Deutschland | |
| und der Türkei] vor 60 Jahren. Zu der Zeit kamen die ersten sogenannten | |
| „Gastarbeiter:innen“ aus der Türkei, in späteren Einwanderungswellen aber | |
| auch zum Beispiel politische Flüchtlinge, zu denen auch der [2][türkische | |
| Journalist und Autor Can Dündar] gehört, der das Festival eröffnet. Es gibt | |
| also eine lange Geschichte des Zusammenlebens zwischen türkischen | |
| Migrant:innen und dem Einwanderungsland Deutschland. Altona ist | |
| insbesondere von diesem Zusammenleben geprägt. Hier ist auch das [3][Thalia | |
| Gauß beheimatet], wo das Festival stattfinden wird. | |
| Warum steht „Nachbarşchaften“ im Plural? | |
| Der Name ist ganz bewusst im Plural gewählt, um das Zusammenleben mit den | |
| verschiedensten Einwanderungsgesellschaften und deren Geschichten zu | |
| thematisieren. Diese möchten wir mit künstlerischen Positionen beleuchten. | |
| Zum Beispiel mit dem Stück „Im Menschen muss alles herrlich sein“ von | |
| [4][Sasha Marianna Salzmann]? | |
| Genau. Das ist eben auch eine Einwanderungsgeschichte, die speziell die | |
| Beziehungen von Müttern und Töchtern und deren Kommunikation in den Blick | |
| nimmt. Das Stück behandelt unterschiedliche Perspektiven der Einwanderung, | |
| die von der Generation abhängen. Da sind auf der einen Seite die Mütter, | |
| die ihr Leben in der ehemaligen Sowjetunion, in diesem Fall auf dem Gebiet | |
| der Ukraine, und in der postsowjetischen Umbruchszeit verbracht haben. Auf | |
| der anderen Seite sind die Töchter, die den Großteil ihres Lebens in | |
| Deutschland aufgewachsen sind, sich aber mit dieser Geschichte auch | |
| konfrontieren wollen. | |
| Spielt das Stück auch auf die aktuelle Situation in der Ukraine an? | |
| Der Krieg im Donbass existiert ja bereits länger – seit 2014. Der Angriff | |
| Russlands auf die gesamte Ukraine war während der ersten Planungen der | |
| Uraufführung noch nicht aktuell. Die Autor:in hat das auch bei der | |
| Bühnenfassung mitbedacht, auch wenn sie natürlich nicht alles umgeschrieben | |
| hat. Aber es gibt natürlich viele Bezüge und die Inszenierung erhält | |
| angesichts des fortdauernden russischen Angriffskrieges einen anderen | |
| Resonanzraum. | |
| Zur Eröffnung zeigen Sie Can Dündars „SİLİVRİ. Prison of thought / museum | |
| of small things“. Worum geht es da? | |
| Die dreiteilige Ausstellung ist von dem türkischen Journalisten und Autor | |
| Can Dündar, wobei [5][Hakan Savaş Mican] den dritten Teil „Museum of small | |
| things“ mit ihm zusammen kreiert hat. Sie bleibt auch über die ganze Zeit | |
| des Festivals. Can Dündar wurde selbst im Gefängnis Silivri für mehrere | |
| Monate gefangen gehalten, wie viele Oppositionelle und Journalisten. Der | |
| Titel „Prison of thoughts“ spielt auch darauf an, dass die Gedanken all | |
| dieser Inhaftierten sich nicht wegsperren lassen und der Protest | |
| weitergeht. | |
| Und man kann dieses Gefängnis selbst „besuchen“? | |
| Mit einer VR-Brille können die Zuschauer den Weg zu seiner Zelle nachgehen, | |
| die als maßstabsgetreuer Nachbau den zweiten Teil der Ausstellung | |
| darstellt. Darauf aufbauend folgt die Videoinstallation „Museum of Small | |
| Things“, wo Interviews mit Gefangenen von Silivri gezeigt werden, die unter | |
| anderem über kleinere Gegenstände erzählen, wie zum Beispiel eine Schnecke, | |
| die sich in eine Zelle verirrt hat. Diese Objekte sind als Teil der | |
| Videoinstallation in der Garage des Thalia Gauß ausgestellt. | |
| Was wird noch Teil des Festivals sein? | |
| Da wäre zum Beispiel [6][Fatma Aydemirs „Dschinns“]. Dabei handelt es sich | |
| auch um eine Mehrgenerationengeschichte, die Parallelen zu der Aufführung | |
| von Salzmann hat, aber diesmal in Bezug zu einer Familie aus der Türkei. | |
| Dort wird in einer Rückschau die Einwanderungsgeschichte einzelner | |
| Familienmitglieder und die intergenerationelle Kommunikation zum Thema | |
| gemacht. Die Geschichte greift auch das rassistische Klima der 90er-Jahre | |
| auf. Auch zeigen wir ein Gastspiel aus Frankfurt, „NSU 2.0“ von [7][Nuran | |
| David Çalış]. Das ist ein dokumentarisches Stück, das als Triptychon | |
| rechtsextremer Gewalt den Bogen spannt vom NSU-Komplex über den Mord an | |
| Lübke bis zu dem rassistisch motivierten Anschlag in Hanau. | |
| Geht es bei dem Stück auch darum, der deutschen Gesellschaft den Spiegel | |
| vorzuhalten? | |
| Genau, es geht in dem Fall auch darum, zu gucken, wo sind da eigentlich | |
| Netzwerke? Wie werden die Anschläge aufgearbeitet, wo gibt es blinde | |
| Flecken auf Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft und | |
| Sicherheitsbehörden? Nicht zuletzt, seit sich herausgestellt hat, dass es | |
| rassistische Chats in der Frankfurter Polizei gegeben hat, nur um eins von | |
| vielen Beispielen zu nennen. | |
| Es gibt nicht nur Theater, sondern auch Diskussionen. Worüber? | |
| Es ist uns wichtig, dass wir nicht nur zu Theateraufführungen einladen, | |
| sondern dass es auch Diskussionsformate und Gespräche, aber auch Konzerte | |
| gibt. Gleich zu Beginn des Festivals spielt zum Beispiel Ozan Ata Canani – | |
| im Anschluss an den preisgekrönten Dokumentarfilm „Liebe, D-Mark und Tod“, | |
| der unter anderem Canani porträtiert. Er verbindet türkische | |
| Musikrichtungen mit Texten, die er unter anderem zu seinem Leben in | |
| Deutschland geschrieben hat und zu den Schwierigkeiten, die es gab. | |
| Was empfehlen Sie noch? | |
| Am Schluss des Festivals gibt es ein Konzert mit Nakriz, das ist eine in | |
| der Diaspora lebende syrische Band, die jetzt in Deutschland arbeitet. Sie | |
| machen eine Art Fusion aus verschiedenen Elektro-Beats und arabischen | |
| Instrumenten, die sie auch live zu ihren DJ-Sets einsetzten. Es war uns | |
| auch ein Anliegen, die Musiktradition, also die Diversität von | |
| Einwanderungsgeschichten zu zeigen. Das transnationale „All Das“-Kollektiv | |
| zeigt mit „Sokak oder die kunst darin straßenkatzen nicht aufzuwecken“ zum | |
| Beispiel einen inszenierten Spaziergang durch Altona. Da geht das Publikum | |
| zusammen mit den Schauspieler:innen durch die Straßen Altonas und hört | |
| über Kopfhörer live die Texte von [8][Nail Doğan] – der als Autor | |
| verschiedene Preise gewonnen hat, unter anderem auch den taz-Publikumspreis | |
| beim Open Mike 2021. | |
| 27 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Anwerbeabkommen/!5807415 | |
| [2] /Schwerpunkt-Can-Duendar/!t5202290 | |
| [3] https://www.thalia-theater.de/ueber-uns/spielstaetten/gaussstrasse | |
| [4] /Neuer-Roman-von-Sasha-Marianna-Salzmann/!5802720 | |
| [5] /Autor-Hakan-Sava-Mican-ueber-Berlin/!5817244 | |
| [6] /Podcast-Couchreport/!5837677 | |
| [7] /Gedenken-an-den-Anschlag-von-Moelln/!5848349 | |
| [8] /!5740170 | |
| ## AUTOREN | |
| Tatjana Smudzinski | |
| ## TAGS | |
| Thalia-Theater | |
| Theater | |
| Festival | |
| Türkei | |
| Altona | |
| Einwanderung | |
| Schwerpunkt Can Dündar | |
| Transkulturell | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Theater | |
| Theater | |
| Schwerpunkt Can Dündar | |
| Thalia-Theater | |
| taz Plan | |
| Putsch | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gedenken an Hanau: Türen zur Wahrheit suchen | |
| Wo die behördliche Aufklärung bei rechtsextremen Terror versagt, machen | |
| Initiativen weiter. Ihrer Arbeit gilt die Ausstellung „Three Doors“ im HKW. | |
| Deutsch-ukranisches Theater in Köln: Hier bitte keine Leichen bestatten | |
| Geschichte, Propaganda, Schweigen zwischen Russland, der Ukraine und | |
| Deutschland: Darum geht es in zwei deutsch-ukrainischen Theaterstücken in | |
| Köln. | |
| Diversität im Theater: Mit fremden Federn geschmückt | |
| Wenn große Repertoiretheater mit der freien Szene zusammenarbeiten, wird | |
| ihr Angebot vielfältiger. Aber sie verlieren auch den Kern ihrer Marke. | |
| Ausstellung über türkischen Knast: Aus dem Gefängnis im Kopf | |
| Der türkische Journalist Can Dündar erinnert sich im Hamburger Thalia Gauß | |
| an seine Zeit im Gefängnis Silivri. Drei Monate war er dort inhaftiert. | |
| Kirill Serebrennikov am Hamburger Thalia-Theater: Der Regisseur der Freiheit | |
| Kirill Serebrennikov darf am Thalia-Theater persönlich inszenieren. In | |
| Russland war er Schikanen ausgesetzt – auch wegen seines Schwulseins. | |
| Theatertipps der Woche: Manifest und Widerstand | |
| Das Gorki Theater inszeniert ein Manifest für die Zukunft und erinnert mit | |
| der Reihe „Stronger Still“ weiterhin an die Repressionen in der Türkei. | |
| Film über Putsch in der Türkei: Was wusste Erdoğan? | |
| Der türkische Journalist Can Dündar hat einen Film über den Putsch von 2016 | |
| veröffentlicht. Dabei stellt er die Frage: Kann das so gewesen sein? |