| # taz.de -- Deutsch-ukranisches Theater in Köln: Hier bitte keine Leichen best… | |
| > Geschichte, Propaganda, Schweigen zwischen Russland, der Ukraine und | |
| > Deutschland: Darum geht es in zwei deutsch-ukrainischen Theaterstücken in | |
| > Köln. | |
| Bild: Szene aus „Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern“ am Schauspie… | |
| Wie sich Geschichte wiederholt: Im Video, projiziert auf ein erdfarbenes | |
| Tuch, steht ein ukrainischer Weizenbauer auf seinem Hof und erzählt nicht | |
| nur von seiner Familie, sondern auch von Kannibalismus und | |
| Kollektivsuiziden. Im Jahr 1933 herrschte in der Ukraine eine von Stalin | |
| bewusst herbeigeführte Hungersnot, der schätzungsweise 3,5 Millionen | |
| Menschen zum Opfer fielen: der Holodomor, ein historischer Massenmord. Wie | |
| kann das sein im Land mit der fruchtbaren schwarzen Erde? | |
| Mit Soldatentrupps wurde das Getreide abtransportiert, um die | |
| Industrialisierung der UdSSR voranzutreiben – eine gruselige Parallele zu | |
| heutigen Hungerspielen von Putin. Am Schauspiel Köln wird sie in der | |
| Inszenierung „Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern“ besonders | |
| augenfällig: Am Schluss ertönt Luftalarm in dem Video, der Weizenbauer rast | |
| in den Schutzbunker, man hört Bomben fallen. Wer soll da die Ernte | |
| einholen? | |
| Das deutsch-ukrainische Stück des Theaterkollektivs Futur.3 am Schauspiel | |
| Köln verlässt sich in stark auf dokumentarische Fakten. Erst erzählen die | |
| drei deutschen und zwei ukrainischen Künstler jeweils von dem, was sie | |
| selber wissen: Während die Ukraine seit Jahren um die Anerkennung des | |
| Holodomors als Genozid ringt – Schauspieler Oleksii Dorychevskyi erzählt | |
| von stets präsenten Familienerinnerungen – ist der Holodomor in Deutschland | |
| kaum bekannt. | |
| Dann werden Archivfotos projiziert: verhungerte Bauern am Wegesrand. Ein | |
| Park, auf dessen Eingang steht: Hier bitte keine Leichen bestatten. | |
| Weizensäcke, die aus Häusern getragen werden. | |
| Auf den Bühnentüchern werden die Schauspieler immer wieder zu historischen | |
| Figuren: Eine Live-Kamera projiziert sie mit Namen und Hintergrundinfos auf | |
| die Tücher. Anja Jazeschann als Bäuerin Magda Hohmann erzählt in | |
| verzweifelten Briefen an den Bruder, wie sie Runkeln und Hunde isst. Stefko | |
| Hanushewsky als nach Köln emigrierter Sowjetschriftsteller und | |
| Propagandaoffizier Lew Kopelew verkündet glühend überzeugt, dass der neue | |
| sowjetische Mensch eben ein paar Opfer in Kauf nehmen muss. Es ist | |
| beeindruckend, wie hier mit historischen Dokumenten eine Bildungslücke | |
| geschlossen wird. | |
| ## Bedrückend und pathetisch | |
| Zudem machen die drei Musiker:innen [1][Mariana Sadovska,] Jörg | |
| Ritzenhoff und Yasia Sayenko, in leicht traditionell-ukrainische Gewänder | |
| gekleidet, den Abend zu einem grandiosen Klangerlebnis: Sie stimmen alte | |
| ukrainische Hymnen an, lassen in elektronischen Beats die gefühlte Not | |
| eskalieren. Das ist manchmal fast unerträglich pathetisch – und doch extrem | |
| bedrückend. | |
| Und dann weitet sich die Perspektive zur Frage, wie willig sich westliche | |
| Länder sowjetischer Propaganda unterwarfen. Erzählt wird etwa, wie der | |
| [2][irische Journalist Gareth Jones 1933] versuchte, die Welt zu | |
| informieren – und ausgerechnet vom Russland-Korrespondenten der New York | |
| Times niedergeschrieben wurde. Wenig später wurde Jones, wohl vom KGB, | |
| ermordet. Die russischen Propaganda-Truppen waren einst offenbar ähnlich | |
| effizient wie heute. Ein wichtiger Abend, der historische und poetische | |
| Tiefe in mediale Fakten bringt. | |
| Eine Woche später im viel kleineren [3][Theater der Keller], in einem | |
| Bühnenraum, der schon für sich wie ein Bunker wirkt, schreit schon der | |
| Stück-Titel nach Aufmerksamkeit: „Putin-Prozess“. Doch in der Inszenierung | |
| des ukrainischen Regisseurs Andriy May ist kein Tribunal zu erleben. Er | |
| beschäftigt sich vielmehr mit den totalitären Zügen in uns selbst und den | |
| biografisch so unterschiedlich geprägten Perspektiven auf den Krieg. | |
| ## Surfen auf dem Meer der Meinungen | |
| Zunächst ziehen sich die drei Schauspieler Neopren-Surfanzüge an, eine | |
| durchpeitschte Ozean-Landschaft erscheint auf der Videoleinwand: Auf diesem | |
| schwankendem Untergrund müssen sie jetzt surfen. Der Schauspieler Timo | |
| Ballenberger hat nur Bundesdeutsches zu berichten. Die Performerin und | |
| Sängerin Tetiana Zigura beginnt, Ballett zu tanzen (Choreografie: Viktor | |
| Ruban), auf dem Bildschirm wird dazu ein diszipliniertes Corps de Ballett | |
| mit einem marschierenden Soldatenbataillon parallelgeschaltet: Für die | |
| Präzision und Disziplin seiner alterslosen Zucht-Kunst ist Russland | |
| berühmt. | |
| Ist hier schon eine Erklärung für die faschistische | |
| Unterwerfungsbereitschaft der russischen Gesellschaft zu finden? | |
| Gleichzeitig erzählt Zigura, wie sie bei Auftritten in China nie als | |
| Ukrainerin wahrgenommen wurde. Regisseur [4][Andriy May] selbst spricht | |
| davon, wie er vor wenigen Monaten nach Köln floh, mit kleinem Sohn und | |
| kranker Mutter, und der Taxifahrer, der ihn aus dem Land brachte, auf der | |
| Rückfahrt erschossen wurde. | |
| Doch dieser Abend handelt nicht nur von Kriegserlebnissen, sondern vor | |
| allem davon, wie sich Prägungen in uns einschreiben. Wie ferngesteuert und | |
| lautlos schreiten die Performer durch die Stuhlreihen, gefangen in einer | |
| anderen Wirklichkeit. | |
| Mal stellen sie ein Publikumsgespräch nach und simulieren | |
| ukrainisch-existenzielle und deutsch-kostenbesorgte Perspektiven auf den | |
| Krieg. Dann zeigen sie Szenen vom Missbrauch im Theater zwischen Regisseur | |
| und Darstellerin – Tetiana Zigura schreit wie eine Möwe – als sei es eine | |
| Anspielung auf Tschechow, der nun ebenfalls zur Geisel des russischen | |
| Imperialismus geworden ist. | |
| Und irgendwann ist auch Putin selbst im Video zu sehen. Wie eine | |
| ferngesteuerte Monsterpuppe spricht er seine Kriegsrede vom 24. Februar, | |
| blutrot leuchten die menschenverachtenden Doppelbotschaften nach. Der | |
| Patriarch Kyrill faselt von Opferbereitschaft, eine Moderatorin vom | |
| Atomkrieg. | |
| Wie dieser Grad der unglaublichen Perspektivverschiebung erreicht werden | |
| kann? Nur nicht zu lange drüber nachdenken, in glitzernden Liberty-Kostümen | |
| springen die Performer herein, raven weltvergessen im Namen der westlichen | |
| Freiheit, spiegeln uns, um gleich darauf hektisch Fakten zu verlesen – und | |
| den Nachrichtenoverkill dann wieder zu schlichten Papierfliegern zu | |
| verbasteln. | |
| „Putin-Prozess“ erzählt davon, wie manipulierbar der Prozess unserer | |
| Menschwerdung ist, unsere Haltungen letztlich Zufälle sind. Am Ende bleibt | |
| das Bild der drei entrückten Surfer auf dem Meer der Meinungen zurück: | |
| Solange sie geschmeidig an der Oberfläche surfen, läuft alles glatt. Direkt | |
| darunter lauert der Untergang. | |
| 20 Nov 2022 | |
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| [1] /Ukrainische-Saengerin-Mariana-Sadovska/!5843062 | |
| [2] /Berlinale-Mr-Jones/!5571749 | |
| [3] https://theater-der-keller.de/ | |
| [4] /Festival-Goethe-Institut-im-Exil/!5883774 | |
| ## AUTOREN | |
| Dorothea Marcus | |
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