# taz.de -- Diskussion zu Buch „Ukraine verstehen“: Verantwortung und geerb… | |
> Im Deutschen Theater Berlin wurde das Buch „Ukraine verstehen“ des | |
> Journalisten Steffen Dobbert vorgestellt. Dazu gab es ein prominent | |
> besetztes Podium. | |
Bild: Wird die Ukraine im Westen verstanden? Cherson nach der Befreiung am 13. … | |
Es gibt mehrere berührende Momente an diesem Abend im Kammerspielsaal des | |
Deutschen Theaters in Berlin, ein besonderer hat mit einem Mann namens | |
Andrij Saienko zu tun. Der Reporter Steffen Dobbert, der die Ukraine seit | |
vielen Jahren bereist, lernt den Oppositionellen Saienko 2014 auf dem | |
Euromaidan kennen. Am 20. Februar 2014 liegt Saienko dann tot vor ihm. Er | |
ist eines der Opfer des Maidan. Dobbert liest sichtlich bewegt vor, wie er | |
fünf Jahre später die Familie des Ermordeten besucht. „Andrij ist für die | |
Freiheit unseres Landes gestorben“, sagt dessen Mutter ihm. | |
Steffen Dobbert, der bereits 2014 ein E-Book über den Euromaidan | |
geschrieben hat, stellt am Dienstag sein neues Buch „Ukraine verstehen“ | |
(Klett-Cotta, 2022) vor. Es ist keine Buchpremiere wie jede andere: Das | |
ukrainische Piano-Pop-Duo Tankataka spielt zwischendurch Songs, gleich zu | |
Beginn liest deren Sängerin Tanja Kozhukharenko in einer szenischen | |
Performance die ergreifenden Tagebuchaufzeichnungen der Lehrerin Oleksandra | |
Radtschenko aus der [1][Zeit des Holodomor, der Hungersnot der dreißiger | |
Jahre] (in einem Kapitel des Buchs werden diese zitiert). | |
Den größten Teil des Abends nimmt aber eine von der Journalistin Mariam Lau | |
moderierte Podiumsdiskussion über den Status quo in der Ukraine ein, zu | |
Gast sind die Publizistin und Grünen-Politikerin Marina Weisband, die | |
Grünen-Europaabgeordnete Viola von Cramon und die Journalistin | |
[2][Anastasia Magazova, die für die taz aus der und über die Ukraine | |
berichtet]. Das Podium ist etwas einseitig besetzt – interessant wird es | |
trotzdem. | |
## Mangelndes Verständnis des Westens | |
Wie Andrij Saienko sterben auch heute Menschen für die Freiheit (nicht nur) | |
ihres Landes, und die Zweifel sind dabei groß, dass die Ukraine im Westen | |
richtig „verstanden“ wird. „Man muss in der Ukraine gewesen sein, um zu | |
begreifen, was dort verteidigt wird und wie man dort für Menschlichkeit | |
kämpft“, sagt Marina Weisband im Lauf des Gesprächs und kritisiert: „Die | |
Deutschen haben die Ukraine viel zu lange durch die Linse Russlands | |
betrachtet.“ | |
[3][Marieluise Beck (Grüne)], die das Grußwort spricht, weist darauf hin, | |
dass in Deutschland das „Existenzrecht“ der Ukraine – unter anderem von | |
Altkanzler Helmut Schmidt 2014 – angezweifelt wurde und wird. Sie fordert, | |
dass wir „unabdingbar an der Seite der Ukraine stehen“. Beck sieht die | |
Kriterien, die in der UN-Völkermordkonvention 1948 formuliert wurden, im | |
russischen Angriffskrieg gegen das Nachbarland erfüllt. | |
Auch aus diesen Gründen verteidigt Viola von Cramon einmal mehr die | |
Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie war erst vor wenigen Tagen in der | |
Oblast Kyjiw, kurz nach dem massiven Beschuss ukrainischer Städte Mitte | |
September. Gerade durch deutsche Raketenabwehrsysteme gelinge es dort, | |
russische Flugkörper abzufangen. „Waffen können Leben retten“, betont von | |
Cramon. Den Respekt gegenüber der Kampfkraft und dem Willen der Ukrainer | |
hört man ihren Worten an: „Sie schicken gerade ihre besten Leute an die | |
Front: Kulturschaffende, Philosophen, Musiker.“ | |
## Fragwürdige Vorgänge im Kanzleramt | |
Über die möglichen Lieferungen von Leopard-Panzern wird schließlich | |
ebenfalls diskutiert. Das Zögern diesbezüglich stehe in einer Reihe | |
fragwürdiger Vorgänge im Kanzleramt, so Weisband. Schon kurz nach | |
Kriegsbeginn sei es dort darum gegangen, möglichst den wirtschaftlichen | |
Status quo ante mit Russland wiederherzustellen, wisse sie aus | |
vertraulicher Quelle. Sie sieht derzeit die realistische Chance eines Siegs | |
der Ukraine: „Das Momentum liegt aufseiten der Ukraine. Russland wird | |
jetzt auf Minsk III drängen. Für die Ukraine wäre es furchtbar, ließe sich | |
der Westen darauf ein.“ | |
Einen ukrainischen Sieg hält auch Anastasia Magazowa für möglich. Sie | |
träumt für die Zeit danach schon von einem Wirtschaftswunder, und als sie | |
abschließend gefragt wird, wo wir in einem Jahr stünden, antwortet sie: | |
„Ich liege am Strand auf der Krim.“ | |
Als es um historische Verantwortung Deutschlands geht, die meistens im | |
Zusammenhang mit Russland auf den Plan gerufen wird, führt Dobbert aus, die | |
Beschäftigung mit den Verbrechen der Nazis in der Ukraine habe ihn eines | |
gelehrt: „Ich vertrete die These, dass Deutschland eine historische Schuld | |
gegenüber der Ukraine hat. Deswegen verstehe ich nicht, warum die deutsche | |
Regierung so gegenüber der Ukraine agiert.“ | |
Dass auch die ukrainische Kultur in gewisser Weise zu einer Kriegspartei | |
geworden ist, zeigt abschließend das Musikduo Tankataka, als es den Song | |
„Єдині квіти“ („Die einzigen Blumen“) spielt. Darin konterkar… | |
die Putin-Propaganda, die russischen Soldaten würden in der Ostukraine mit | |
Jubel und Blumen empfangen. Im Refrain singt Tanja Kozhukharenko die | |
Zeilen: „Die einzigen Blumen, die sie verdienen / sind die Blumen auf ihrem | |
Grab“. | |
23 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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