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# taz.de -- Film über Putsch in der Türkei: Was wusste Erdoğan?
> Der türkische Journalist Can Dündar hat einen Film über den Putsch von
> 2016 veröffentlicht. Dabei stellt er die Frage: Kann das so gewesen sein?
Bild: Soldaten auf der Bosporus-Brücke in Istanbul am 16. Juli 2016
Can Dündar, Journalist und Dokumentarfilmer, der seit einigen Jahren in
Berlin im Exil lebt, ist mit seinem Film über den Putschversuch in der
Türkei im Juli 2016 ein starkes Stück Zeitgeschichte gelungen. Für jeden,
der damals in der Türkei war, kommen beim Zusehen die gerade erst ein wenig
verblassten Erinnerungen aus der Nacht vom 15. auf den 16. Juli wieder
hoch.
Die ersten Nachrichten von Panzerkolonnen mitten im Berufsverkehr am
Freitagabend auf der Bosporus-Brücke, die die meisten noch für einen
schlechten Scherz hielten.
Dann der Fernsehauftritt der Putschisten – bei dem sie mit Kapuzen auf dem
Kopf ihr Kommuniqué verlesen ließen wie südamerikanische Drogenmafiosi und
Erdoğan für abgesetzt erklärten.
Und dann der große Auftritt von Erdoğan, ausgerechnet in dem angeblichen
Oppositionssender CNN-Turk, wo er über ein Handydisplay auf Facetime seine
Anhänger aufruft, auf die Straße zu gehen und sich den Putschisten entgegen
zu stellen. Die Entscheidung fällt, als Erdoğan-treue Truppen den Flughafen
Istanbuls wieder unter ihre Kontrolle bringen und Erdoğan aus seinem
Urlaubsort in Marmaris mit einem Turkish-Airlines-Flugzeug dort landen
kann. Noch in derselben Nacht beginnt die Abrechnung mit seinen Gegnern.
## Lynchende Islamisten
Dündar schildert die Ereignisse anhand von zwei Protagonistinnen: einer
jungen Frau aus einem Dorf in Anatolien, deren Bruder als junger,
ahnungsloser Rekrut von seinen Offizieren auf die Bosporus-Brücke geschickt
wurde, und der dann, als der Putsch fehlschlägt, von völlig enthemmten
Erdoğan-Anhängern gelyncht wird; und einem Erdoğan-Anhänger, der zur Brücke
fuhr, um die Demokratie zu verteidigen, um dann entsetzt mitansehen zu
müssen, wie die von Erdoğan gerufenen Islamisten die Soldaten ermorden.
Dündar hat mit Hilfe Hunderter Stunden Videoaufnahmen die Ereignisse
rekonstruiert, hat die Vorgeschichte des Putsches Revue passieren lassen,
Zeugen befragt und die Ereignisse von zwei deutschen Experten, dem
damaligen deutschen Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, und dem
damaligen Spiegel-Türkei Korrespondenten Max Popp, einordnen lassen.
Diese Rekonstruktion ist eindrucksvoll und plausibel. Und doch bleiben
wesentliche Fragen offen. Der Film macht zwar deutlich, dass Erdoğan im
Anschluss an die Putsch-Nacht die Ereignisse maximal zur Erweiterung seiner
Macht nutzte. Er hatte die Verhaftungslisten gleich parat. Und es sind
nicht nur Anhänger der Gülen-Sekte, die auch im Film als die
Hauptverantwortlichen für den Putsch identifiziert werden, die verhaftet
werden, sondern ein großer Teil der gesamten Opposition gleich mit.
Vage bleibt der Film bei der Beantwortung der Frage aller Fragen: Wie
konnte es Erdoğan gelingen, den Putsch abzuwehren und noch in der gleichen
Nacht Verhaftungslisten Tausender Leute zu präsentieren, die angeblich
darin verwickelt waren. Warum war er so gut vorbereitet?
## Kann das so gewesen sein?
Der Film referiert hier die offizielle Version, nachdem die Putschisten
wenige Stunden bevor es losgehen sollte verraten wurden und dann überhastet
ihren Coup vorzogen. Erdoğan wird gezeigt, wie er im türkischen Fernsehen
am Tag danach behauptet, erst von seinem Schwager am Telefon erfahren zu
haben, dass in Ankara und Istanbul ein Putsch gegen ihn im Gange sei. Doch
kann das wirklich so gewesen sein?
Der Putschversuch sei kein Operettenputsch, sondern blutiger Ernst gewesen,
sagt Max Popp in dem Film. Und doch konnte man sich schon in der
Putsch-Nacht des Eindrucks nicht erwehren, hier wird dem Publikum etwas
vorgegaukelt. Die türkische Armee hat in der Geschichte der Republik
mehrmals gezeigt, dass sie weiß, wie man putscht. Bei dem letzten großen
Putsch am 12. September 1980 wachte die Bevölkerung am Morgen auf und alles
war bereits gelaufen. An jeder Ecke standen Panzer, die führenden Politiker
waren allesamt festgenommen worden und der Staatssender fest in der Hand
der Generäle.
In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli fand ein Putsch statt, der von
Pleiten, Pech und Pannen begleitet war und dem deutlich das Personal
fehlte, weil ein großer Teil der Armee gar nicht mitmachte. So kam das
schlecht vorbereitete Kommando, das Erdoğan an seinem Ferienort festnehmen
sollte, volle fünf Stunden nach dessen Abreise aus Marmaris dort an und
wurde gleich von Erdoğan-treuen Truppen in Empfang genommen.
Vor allem aber: Der wichtigste Teil der Truppen stellte sich gegen die
Putschisten. So hatte der kommandierende General der in Istanbul
stationierten 1. Armee Erdoğan in der Putsch-Nacht noch vor seiner Landung
auf dem Flughafen versichert, dass er für dessen Sicherheit garantieren
würde.
## Ins Messer
Der Film erklärt das damit, dass verzweifelte Gülen-Anhänger im Militär den
Putschversuch starteten, weil sie befürchten mussten, bei einer
bevorstehenden Kommandeurstagung aussortiert zu werden. Das kann schon
sein.
Aber der gesamte Ablauf des Putsches spricht dafür, dass die Regierung
lange vorher Bescheid wusste und [1][die Putschisten ins offene Messer
laufen ließ.] Man kann das bislang nicht beweisen, aber die Zweifel
bleiben.
22 Jan 2021
## LINKS
[1] /Prozess-gegen-tuerkische-Putschisten/!5731664
## AUTOREN
Wolf Wittenfeld
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