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# taz.de -- „Dschinns“ von Fatma Aydemir im Theater: Die Geister der Vergan…
> Die Familie ist ein schönes und wackliges Konstrukt in „Dschinns“. So
> heißt in Mannheim ein Theaterabend nach dem Roman von Fatma Aydemir.
Bild: In „Dschinns“ im Nationaltheater Mannheim ist das Haus auf der Bühne…
In [1][Fatma Aydemirs Roman „Dschinns“] kommen alle zu Wort. Den Anfang
macht Vater Hüseyin, den Schluss bestreitet die Mutter. Dazwischen blättern
sich die Lebensläufe ihrer vier Kinder auf. Eine Familie, viele
Perspektiven. Der Autorin (und taz-Redakteurin) Aydemir gelingt es dabei,
jeden und jede mit einem eigenen Sound, einer bestimmten Temperatur
auszustatten. Das macht auch die Regisseurin und künftige Co-Intendantin
des Schauspiels Essen, Selen Kara, die „Dschinns“ am Nationaltheater
Mannheim in einer eigenen Fassung uraufführte.
Zu Beginn zeigt die Bühne eine Hausfassade, die wie ein Geschenk verpackt
ist mit einer großen schwarzen Schleife, die auch ein Trauerband sein
könnte. Nicht zuletzt erzählt Aydemirs Roman von Tod und von Schmerz. Mehr
aber von Fremdheitsgefühlen innerhalb der eigenen Sippe. Die aus der Türkei
stammende Familie Yilmaz hat sich auf unterschiedliche Weise in Deutschland
eingerichtet.
Aydemir nutzt die einzelnen Familienmitglieder, um verschiedene
gesellschaftliche Aspekte zu akzentuieren: Migration, Rassismus,
Feminismus, Sexismus, Klassismus, Homophobie, Transgender. Ein bisschen
viel auf einmal, wobei sich das auf über 350 Seiten besser verteilt als auf
nicht einmal drei Stunden Theater.
Da kommt es ziemlich dicke und dicht daher, was Kara immer wieder mit
komischen Einlagen auflockert. Der älteste Sohn Hakan, gespielt von Arash
Nayebbandi, legt etwa eine herrlich kabarettreife Nummer vor. Er schrammt
dabei zwar nur haarscharf am Klischee vorbei, präsentiert sich aber doch in
all seiner großspurigen Liebenswürdigkeit. Alles in allem gelingt Kara ein
gleichermaßen unterhaltsamer wie zu Herzen gehender Abend.
Die titelgebenden Geisterwesen „Dschinns“ stehen für die dunklen
Familiengeheimnisse, die durch den Tod des Vaters ans Licht gespült werden
wie Dreck. Auch die Erzählstimmen des Romans kommen wie Geister daher, von
den Eltern berichten sie in der göttlichen Du-Form, von den Kindern
personal in der dritten Person Singular. Beides sorgt für eine gewisse
Distanz zum Erzählten. Auf der Bühne sind es leider oft Monologe im
Zeige-deine-Wunde-Gestus, gern im Stehen an der Rampe dargeboten, was
dramaturgisch unaufregend bleibt.
## Showdown zwischen Mutter und Tochter
Mit wenigen Requisiten und Mehrfachbesetzungen ihrer sechs
Darsteller:innen stellt Kara die markantesten Szenen des Romans im
Spannungsfeld zwischen Tradition und Emanzipation nach. Mit Licht und Musik
trennt sie Zeiten, Orte und Stimmungen. Toll eine Szene zu Beginn, in der
sich zwei Vorgänge überlagern: die Waschung des toten Vaters und die erste
Verknalltheit des Jüngsten Ümit (Yasin Boynuince) in einem Hallenbad. Dazu
sitzt er am Bühnenrand und lässt sich von anderen mit Wasser beträufeln.
Richtig ans Eingemachte geht es erst im letzten Teil des Abends. Die Mutter
Emine, in trostloser Verfassung, liefert sich einen regelrechten Showdown
mit ihrer ältesten Tochter Sevda. Die Geister der Vergangenheit umsurren
die beiden wie Moskitoschwärme. Almut Henkel, sie spielt die Emine mit
blechern schneidender Stimme und stoisch starren Blicken, gelingt ein
geradezu heiliger Theatermoment, nachdem sie einen kleinen Teppich
ausgerollt hat und zu beten beginnt. Die performative Kraft des Glaubens
führt zu gespenstischer Stille im Saal, wie sonst nie an diesem Abend.
Ursprünglich war die Uraufführung der Bühnenfassung für Anfang April
angesetzt, doch Coronaerkrankungen im Ensemble haben die Premiere immer
wieder verschoben. Auch die Schauspielerin der Sevda, Sascha Özlem Soydan,
ist sehr kurzfristig eingesprungen, was man ihrem Spiel kein bisschen
anmerkt. Mit strahlend leuchtender Traurigkeit und hellwachem Witz
präsentiert sie sich und ihre Figur.
Wie schon bei [2][„Ellbogen“, dem ersten Roman Aydemirs,] ebenfalls von
Selen Kara am Nationaltheater Mannheim inszeniert, sollte auch diesmal
mindestens die Hälfte des Teams Rassismuserfahrungen mitbringen, sprich
einen offensichtlichen Migrationshintergrund. So kommt es, dass drei der
sechs Darsteller:innen (neben den Genannten noch Tala Al-Deen und
Newroz Çelik) als Gäste in Mannheim engagiert sind.
Am Ende, als sich alle in der Wohnung des Vaters in Istanbul versammeln,
vervollständigt sich das Haus auf der Bühne, Seitenwände kommen hinzu, das
Dach senkt sich herab. Ein Zuhause entsteht. Es bleibt ein wacklig schönes
Konstrukt. Wie die Familie Yilmaz auch.
10 Jul 2022
## LINKS
[1] /Podcast-Couchreport/!5837677
[2] /Literaturfestival-LitCologne/!5388143
## AUTOREN
Shirin Sojitrawalla
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
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Familienroman
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